Das Heilige Experiment

 

Ulrike Moser

 

Europa ist nicht gottesfürchtig genug für die protestantische Sekte der Puritaner, die sich keiner Staatskirche unterordnen. Deshalb segeln 102 Strenggläubige und Siedler im Herbst 1620 nach Amerika. Dort überlebt die Hälfte von ihnen nicht einmal den ersten Winter. Dennoch halten die "Pilgerväter" durch - und ihr Sendungsbewusstsein prägt bis heute die Kultur der Amerikaner.

 

 

Nein, so haben sie sich das Gelobte Land nicht vorgestellt. So bedrohlich und abweisend. Da liegt sie, die neue Heimat, ein winterlicher Küstenstreifen, dunkler, dichter Wald ohne Grenzen und Ende. Für dieses unwirtliche Stück Erde haben sie die Zivilisation hinter sich gelassen und die gefährliche Überfahrt auf dem herbstlichen Atlantik auf sich genommen.

 

Die Menschen, deren Schiff "Mayflower" an diesem 19. November 1620 vor Cape Cod an der nordamerikanischen Küste vor Anker geht, sind in elendem Zustand. Stürme, Krankheiten und Hunger haben ihnen zugesetzt. Und nun fühlen sie sich auch noch verlassen und verloren. "In welche Richtung auch immer sie ihre Blicke richteten, nirgends konnten sie Trost finden", notiert einer der Passagiere, William Bradford.

 

Zwei Monate ist es her, dass diese 102 Männer, Frauen und Kinder vom englischen Hafen Plymouth aufgebrochen sind. Auf der Überfahrt haben sie sich den knappen Raum mit Schweinen, Ziegen und Hühnern geteilt. Zwei Menschen sind gestorben, ein Seemann und ein Auswanderer. Aber auch ein Kind ist geboren worden, Oceanus Hopkins.

 

Die Passagiere sind nicht die ersten Engländer, die in Nordamerika ein neues Leben beginnen wollen. Schon 13 Jahre zuvor, 1607, haben sich wagemutige Siedler in der neuen Kolonie Virginia niedergelassen: Adelige zumeist, die Gier nach Gold und Hoffnung auf raschen Reichtum in die Ferne getrieben hat, aber auch der Wunsch, Englands Macht zu mehren.

 

Die Menschen an Bord der "Mayflower" dagegen sind weder adelig noch reich. Es sind arme Handwerker und Bauern mit ihren Familien. Sie haben das Wagnis nicht für ihr Land, sondern als Verfolgte unternommen. Und es ist auch nicht die Hoffnung auf irdischen Reichtum, die sie antreibt, sondern ein Experiment: Der Traum von Amerika soll ihnen Raum für ihre eigene Utopie geben. Ein besseres England, ein neues Jerusalem soll hier entstehen - leuchtendes Vorbild für den alten Kontinent.

 

Puritaner sind sie, und sie bringen mit, was Amerika prägen wird: ihr Vertrauen in demokratische Abstimmungen, ihr Misstrauen gegen weltliche Macht sowie die Gewissheit, Werkzeuge der göttlichen Vorsehung zu sein. "Saints" nennen sie sich, Heilige, Gottes auserwähltes Volk. "Pilgrims" wird William Bradford sie später nennen - Reisende ins Gelobte Land gleich dem Volk Israel.

 

Dieser Handwerker mit gelehrten Neigungen wird zum Chronisten der Siedler und der Anfänge ihrer Kolonie. Sein Buch "Of Plymouth Plantation", 1650 veröffentlicht, ist eines der frühesten Werke amerikanischer Geschichtsschreibung. Und Zeugnis des Selbstverständnisses dieser Erwählten.

 

William Bradford ist 16 Jahre alt, als 1606 in dem englischen Dörfchen Scrooby bei York eine kleine Gruppe beginnt, heimliche Gottesdienste abzuhalten. Er ist ein Waisenjunge aus einem Nachbarort, ein kränklicher junger Mann, der schon früh tiefes Interesse für die Bibel gezeigt hat. Er wird Teil jener Untergrundgemeinde, die sich um die Prediger Richard Clyfton und John Robinson sammelt.

 

Beide sind Puritaner und, wie mehrere hundert andere Geistliche zu dieser Zeit, von ihren Pfarrstellen suspendiert worden oder zurückgetreten, weil sie sich nicht zur anglikanischen Staatskirche bekennen. Sie predigen eine Gemeinschaft der Auserwählten, eine reine Kirche, befreit von Ritualen und der Macht der Bischöfe, befreit vom Einfluss des Staates.

 

Im Jahrhundert zuvor hat König Heinrich VIII. mit Rom gebrochen und versucht, die Frage nach der Ausrichtung der Kirche mit einem Kompromiss zu lösen: Er behielt die Amtsstruktur und die alten Rituale bei, setzte aber sich selbst als Oberhaupt der neuen, "anglikanischen" Kirche ein.

 

Der Puritanismus entsteht während der Regierungszeit Elisabeths I. (1558 - 1603) als Bewegung innerhalb der neu geschaffenen "Church of England". Die Puritaner wollen dort, wo die Anglikaner nach dem Bruch mit Rom stehen geblieben sind, die Reform weitertreiben.

 

Sie wollen die Kirche im Geiste des Genfers Johannes Calvin von innen heraus reinigen, von Unmoral, der Bilderpracht der Gotteshäuser und vom katholischen Ritual, das ihrer Ansicht nach einer individuellen Begegnung mit Gott im Wege steht.

 

Die Kirche soll zu jener Reinheit geführt werden, die einst in der von Christus eingesetzten Urkirche bestanden habe. Von der Staatskirche aber wollen sich die Puritaner zunächst nicht trennen.

 

Dennoch wird diese fundamentalistische Bewegung von der Obrigkeit zunehmend als Bedrohung empfunden. 1593 erlässt Königin Elisabeth ein Gesetz, das allen, die sich weigern, die Autorität der Majestät in kirchlichen Dingen anzuerkennen, Haft oder sogar die Todesstrafe androht. Hunderte Puritaner fliehen in die Niederlande, wo sie keine Verfolgung befürchten müssen.

 

Als 1603 König Jakob I. auf den Thron gelangt, erfüllt sich die Erwartung der Puritaner auf mehr Toleranz nicht. Sie geben die Hoffnung auf Reformen auf - und einige lösen sich endgültig von der Staatskirche. Sie werden, wie die Mitglieder der Gemeinde in Scrooby, zu Separatisten, die kirchliche Autorität nur noch innerhalb der eigenen Gemeinde anerkennen.

 

Als Anhänger Calvins glauben sie an die unbedingte Vorherbestimmung des Einzelnen zum ewigen Leben oder zum ewigen Tod, die der Mensch nicht abwenden kann. Nur die saints, die Erwählten, werden aus dem Zustand der Sündhaftigkeit erlöst.

 

Die separatistischen Gemeinden wählen ihre Pastoren und Mitglieder selbst aus. Aufgenommen in die Gemeinschaft der Heiligen wird nur, wer sich einer gründlichen Prüfung durch Pastor und Gemeinde unterzieht und die Echtheit seines spiritual awakening, seines geistigen Erwachens, darlegen kann.

 

Schnell werden die Behörden auf die Gruppe aus Scrooby aufmerksam. Die kleine Gemeinde beschließt, in die Niederlande zu fliehen. Nachdem der erste Versuch im Sommer 1607 scheitert, gelingt etwa 100 Männern, Frauen und Kindern im August 1608 die Emigration nach Amsterdam, im Jahr darauf ziehen sie weiter nach Leiden. Dort gründen die Flüchtlinge ihre eigene Gemeinde, die bald auf mehr als 300 Menschen wächst, als weitere Puritaner aus England eintreffen. Zwar sind sie nun vor Verfolgung sicher, aber die Gemeinde bleibt arm, obwohl ihre Mitglieder hart arbeiten.

 

Doch ob einer den göttlichen Geboten gerecht wird, zeigt sich für diese Menschen nicht im Reichtum. Viel stärker leiden sie unter der Fremdheit. Sie fürchten, ihre Kinder könnten die englische Kultur und Sprache verlieren und der engen Gemeinschaft entgleiten. Sie beschließen, so Bradford, "nach einem neuen Ort zu suchen".

 

Wohin aber sollen sie gehen? Nach längeren Diskussionen entscheiden sie sich für Nordamerika. In der Wildnis scheint die Abschottung der saints von den Sündern und die Errichtung einer freien Gemeinde Christi eher möglich zu sein als in einem europäischen Land. Die Küste Nordamerikas ist seit einigen Jahren bekannt. Cape Cod wurde 1602 erstmals besucht, Plymouth und die Küste von Massachusetts sind 1603 ausführlicher erkundet worden. Und seit 1616 existiert eine verlässliche Karte der Küste Neuenglands.

 

Dennoch, Amerika ist ein Kontinent, von dem man nur ungefähre Vorstellungen hat - vor allem von seinen Ureinwohnern. Für viele Puritaner gehört Amerika, so berichtet Bradford, zu "diesen wilden und unbesiedelten Ländern, welche ertragreich und für Besiedelung geeignet sind und wo es nur wilde und viehische Menschen gibt." Der Großteil der Leidener Gemeinde kann sich nicht zum Wegzug entschließen und wird zurückbleiben. Viele Frauen und Kinder sollen erst nachkommen, wenn die Existenz der neuen Niederlassung gesichert ist.

 

Die Puritaner sind zu arm, um die Überfahrt und die Siedlungsgründung zu finanzieren. Sie benötigen Geldgeber und ein Patent für ein Siedlungsgebiet. Beides könnte eine der Handelsgesellschaften bieten, die in England das Hauptinstrument der Kolonisierung sind. Sie erhalten von der Krone Konzessionen für ein bestimmtes Gebiet, so genannte charters. Die Leidener kommen mit dem Londoner Eisenwarenhändler Thomas Weston ins Geschäft, der mit anderen Kaufleuten eine Aktiengesellschaft gegründet hat, um in eine neue Kolonie zu investieren.

 

Die Vertragsbedingungen für die Auswanderer sind hart: Sieben Jahre lang müssen sie ausschließlich für die Gesellschaft arbeiten. Dafür werden sie mit dem Nötigsten versorgt- Alle Gewinne und das Land sollen nach Ablauf dieser Zeit zwischen den Anteilseignern und der Siedlergruppe geteilt werden. Persönlicher Landbesitz ist für die Siedler bis dahin nicht vorgesehen.

 

Am 2. Februar 1620 erhält Westons Gesellschaft ein Patent für ein Territorium in Virginia. Sechs Monate später, am Morgen des 1. August, stechen die Emigranten auf dem Schiff "Speedwell" in See. Vier Tage später erreichen sie Southampton, wo ein zweites Schiff, die "Mayflower", auf sie wartet.

 

Die Leidener Gemeinschaft stellt zwar die Führer des Unternehmens - aber nur knapp die Hälfte der Passagiere. Die anderen sind strangers, Fremde, die nicht ihrem Glauben anhängen, sondern helfen sollen, das Unternehmen mit zu finanzieren. Insgesamt 120 Passagiere brechen mit den beiden Seglern auf.

 

Schon nach wenigen Tagen erweist sich die "Speedway" als nicht seetüchtig. Plymouth wird angelaufen und das Schiff dort zurückgelassen. Ein Teil der Pilger wechselt auf die "Mayflower", 18 bleiben zurück. Am 16. September 1620 setzt die "Mayflower" mit 102 Passagieren in Plymouth die Segel. Die Zeit drängt. Es wird Herbst, und die stürmischen Monate nahen.

 

Zwei Monate später, als sie vor der Küste Nordamerikas kreuzen, steht der Winter unmittelbar bevor. Und das Land vor ihnen ist gar nicht ihr Ziel. Sie haben das Gebiet in Virginia verfehlt und befinden sich weiter im Norden vor der Bucht von Cape Cod - in einer Gegend, für die sie kein Patent besitzen.

 

Schon während der Überfahrt haben einige strangers sich den Pilgern nicht unterordnen wollen. Nun, da für sie kein Patent gilt, bestehen sie darauf, von niemandem Weisungen entgegenzunehmen. Man verhandelt, und am 21. November setzen 41 Männer ihre Unterschrift unter den "Mayflower Compact", die "erste Grundlage für eine Regierung an diesem Ort", wie Bradford schreibt.

 

In dem Dokument halten die Verfasser ihre Absicht fest, gemeinsam eine Kolonie zu gründen. Mit dieser Übereinkunft schließen sie sich zu einem "civill body politick" zusammen und bekunden, auf dieser Grundlage Gesetze zu erlassen, "die für das allgemeine Wohl der Kolonie am angemessensten und geeignetsten seien".

 

Der "Mayflower Compact" ist - auch wenn er später oft zum Symbol demokratischer Selbstregierung verklärt wird - vor allem ein Instrument, das Einheit und Ordnung in einer kritischen Zeit stiften soll. Eine provisorische Regelung, die in Kraft bleiben soll, bis die Kolonie ein für sie gültiges Patent erhält. Nach der Unterzeichnung wird John Carver zum Gouverneur für das erste Jahr bestellt. Er ist der erste frei gewählte Kolonial-Gouverneur. Und auch künftig werden in dieser Kolonie alle wichtigen Positionen durch Wahl besetzt.

 

Die Männer erkunden vom 25. November an die Gegend, um einen geeigneten Platz für ihre Siedlung zu finden. Auf den Streifzügen durch das verschneite Land begegnen ihnen zum ersten Mal Indianer. Einmal kommt es zu einem Schusswechsel, bei dem aber niemand verletzt wird. Meist fliehen die Einheimischen, sobald sie Fremde erblicken.

 

Die Kundschafter finden verlassene Wigwams, Indianergräber, im Boden vergrabenen Mais, den sie an sich nehmen. Für Bradford eine Fügung Gottes, "eine große Gnade für diese armen Menschen, dass sie hier Mais fanden, um ihn nächstes Jahr zu pflanzen, ansonsten wären sie vielleicht verhungert".

 

Einen Monat nach der Landung ist ein geeignetes Territorium gefunden - ein Gebiet, das bereits den Namen Plymouth trägt. Am 25. Dezember beginnen die Siedler mit dem Bau eines Versammlungshauses. Die "Mayflower", die vor der Küste liegt, wird für viele noch den ganzen Winter über das Quartier bleiben.

 

Plymouth ist Indianerland, das von den Wampanoag bewohnt wird und in dem vor den ersten Kontakten mit Europäern wahrscheinlich mehr als 20 000 Menschen gelebt haben. Seuchen aber haben den Stamm in den Jahren vor Ankunft der Pilger dezimiert - wie auch die Sklavenjagden europäischer Kapitäne. Für die überlebenden Indianer sind die Weißen bedrohliche Eindringlinge. Für die Siedler dagegen sind nicht die Ureinwohner die größte Gefahr, sondern Krankheit und Hunger. In den folgenden Monaten stirbt die Hälfte der Kolonisten, auch ein Großteil der "Mayflower"-Besatzung, die in Plymouth überwintert.

 

Häuser, die Schutz vor der Witterung bieten, fehlen. Und auf der "Mayflower" herrscht weiterhin qualvolle Enge. Die meisten Siedler sind von der Überfahrt ausgezehrt, leiden an Skorbut und anderen Krankheiten. Vor allem Frauen schaffen es nicht, zu überleben. Die Toten werden in möglichst unauffälligen Gräbern bestattet, damit die Indianer sie nicht finden können.

 

Als es endlich Frühling wird und die "Mayflower" aufbricht, lässt das große Sterben nach. Mais kann gesät werden. Binnen weniger Wochen ist eine kleine Siedlung entstanden, die aus einem Lagerhaus, dem Versammlungszentrum, und zwölf weiteren Gebäuden besteht - kaum mehr als Hütten aus mit Lehm verkleidetem Flechtwerk. Sie sind für den Übergang gedacht, bis die Pilger solidere Häuser gebaut haben.

 

Das Versammlungshaus, in dem sich die Gemeinde zum Gottesdienst trifft, dominiert nicht nur durch seine Größe das Dorf. Die Bibel ist in den Häusern oft das einzige Buch. Für die Puritaner ist sie das Gesetz, das Antworten auf alle Fragen bereithält, zu Politik, Geld, Ehe, ja selbst zur Bekleidung. An Sonntagen ruht die Arbeit. Er ist der Tag des Gottesdienstes und der Meditation. Der Kirchgang ist für alle Pflicht, auch für Nicht-Mitglieder.

 

Noch immer ist die Zukunft der Kolonie ungesichert. Bis zum Spätsommer mangelt es an Getreide. Für Fischfang und Pelzhandel fehlt es den Siedlern an den notwendigen Fertigkeiten.

 

Am 1. April erscheint ein Indianer vom Stamm der Wampanoag in der Siedlung; er heißt Squanto und spricht Englisch. Squanto ist einige Jahre zuvor nach Europa verschleppt worden, wahrscheinlich nach Spanien; von dort gelangte er nach England. Als er später in sein Land zurückkehrte, lebte kein einziger Bewohner seines Dorfes mehr. Alle waren von einer Seuche dahingerafft worden.

 

Für Bradford ist dieser Indianer ein "besonderes, von Gott gesandtes Werkzeug", denn er zeigt den Siedlern nicht nur, wie man Mais anbaut und Fische fängt, er dient ihnen auch als Dolmetscher und Vermittler zu anderen Indianern.

 

Obwohl die Indianer für Bradford "barbarische Wilde" sind, liegt ihm an einem friedlichen Auskommen. Die Kolonie braucht Sicherheit. Und sowohl Indianer wie Siedler sind an intensiven Handelskontakten interessiert. Squanto arrangiert ein Treffen mit dem Stamm der Wampanoag, dem größten der Gegend, und dessen Häuptling Massasoit.

 

Es führt 1621 zu einem Friedensschluss, der 50 Jahre hält. Danach aber wird der Landhunger der Siedler, der das Stammesgebiet immer weiter einengt, zu einem brutalen Krieg führen, dem mindestens 3000 Indianer und 600 Kolonisten zum Opfer fallen.

 

Im Frühjahr 1621 stirbt Gouverneur Carver, wahrscheinlich an einem Schlaganfall. Der 31-jährige Bradford wird sein Nachfolger. Damit ist er oberster Richter und Schatzmeister der Kolonie, Geschäftsführer und Außenminister. Bis kurz vor seinem Tod wird er insgesamt 33-mal in das höchste weltliche Amt der Kolonie gewählt.

 

Im Mai findet die erste Hochzeit in der Kolonie statt. Die Puritaner erkennen nur zwei Sakramente an: die Taufe und das Abendmahl. Die Ehe wird bei ihnen als Zivilvertrag geschlossen, ohne Gegenwart eines Pastors. Ein eigenartiger Brauch bei der Werbung um die Braut ist das bundling, bei dem sich Mann und Frau unter eine Decke ins Bett legen, um sich dort zu erklären.

 

Zwar gilt die natürliche Verderbtheit des Menschen nach Überzeugung der Puritaner selbstverständlich auch für den Körper, der ihnen nicht mehr ist als "ein Topf voll fauliger Exkremente". Eine Zügelung der Triebe und Gefühle wird selbstverständlich erwartet. Ein guter Puritaner hält seine Gefühle sogar in Liebesbriefen in Zaum.

 

Dennoch ist die freudlose Strenge und Sexualfeindlichkeit der Puritaner wohl bei weitem nicht so ausgeprägt, wie ihnen nachgesagt wird. Da die Gemeinde auf Bevölkerungszuwachs bedacht ist, akzeptiert sie frühe, rasche und wiederholte Eheschlüsse. Ehelosigkeit ist verpönt, Impotenz gar ein Scheidungsgrund. Vorehelicher und außerehelicher Geschlechtsverkehr werden zwar bestraft, uneheliche Kinder aber geduldet.

 

Im Herbst feiern die pilgrims den ersten Thanksgiving Day auf amerikanischem Boden. Die Siedler haben diesen Brauch aus den Niederlanden mitgebracht. Auch die Wampanoag werden eingeladen; 90 Indianer bringen erlegte Hirsche und Truthähne mit.

 

Das Verhältnis der Pilger zu den Indianern aber bleibt ambivalent. Auf der einen Seite verdanken sie ihnen ihr Überleben. Und Ehen zwischen Engländern und Indianerinnen sind schon bald keine Seltenheit mehr. Zugleich aber verkörpern die Indianer für die Puritaner eine Natur- und Triebhaftigkeit, die sie ablehnen und bekämpfen. Und deren Einfluss auf die Gemeinde sie fürchten wie die Ansteckung mit einer gefährlichen Krankheit.

 

Im November 1621 erscheint unerwartet ein Schiff aus London vor der Küste, an Bord 35 Siedler, darunter zwölf Pilger aus Leiden. Die Ankömmlinge sind ernüchtert, als sie diesen "nackten und öden Platz" sehen.

 

Aber auch die alten Siedler sind entsetzt. Fast nichts haben die Neuen mitgebracht, kein Geschirr, kaum Kleidung, kaum Vorräte. Als im Sommer 1623 zwei weitere Schiffe Plymouth erreichen, besteht die Siedlung aus etwa 20 Häusern, die sehr viel solider sind als die ersten Unterkünfte, wenn auch immer noch bescheiden. Sie sind mit Schindeln verkleidet, haben einen Garten, sind aber meist noch immer eingeschossig.

 

Trotz Hilfe der Indianer bleibt die Versorgungslage in den ersten Jahren kritisch. Die Ernten fallen gering aus, die Aktiengesellschaft schickt meist minderwertige Waren. Vor allem aber verhindert das unter den Pilgern erzwungene System der Kollektivwirtschaft eine hohe Produktivität. Bradford befürchtet, dass dieses System Faulheit und Nachlässigkeit begünstigt. Und: Es schafft Unzufriedenheit.

 

"Die jungen Männer", berichtet Bradford, "die besonders geeignet und tauglich für Arbeit und Dienste waren, waren unzufrieden, dass sie ihre Zeit und Kraft dafür hergeben sollten, um für die Frauen und Kinder anderer Männer zu arbeiten ohne jede Entschädigung. Und die Frauen, die anderen Männern Dienste leisteten, sie bekleiden, ihre Kleidung waschen mussten etc., hielten es für eine Art Sklaverei."

 

Weil immer noch Hungersnot droht, beginnt Gouverneur Bradford 1623 den einzelnen Familien Landparzellen zuzuteilen. Zwar steht das im Widerspruch zu den mit den Londoner Geldgebern getroffenen Abmachungen, aber diese beginnen sich ohnehin zurückzuziehen, weil die erwarteten Gewinne ausbleiben.

 

Dennoch konsolidiert sich die Kolonie: Die Getreideproduktion wächst, und der Pelzhandel wird zunehmend wichtiger für das Überleben der Siedler. Mit den Indianern tauschen die Weißen Felle gegen Schmuck, Decken, Schnaps und - trotz des ausdrücklichen Verbots der englischen Krone - gegen Waffen. Die Felle werden von den Versorgungsschiffen nach Europa gebracht, wo sie an den Fürstenhöfen ein begehrtes Gut sind.

 

Dank des wachsenden Wohlstands gelingt es den Kolonisten, die Anteile der Londoner Kaufleute zu erwerben. 1627 wird die Aktiengesellschaft liquidiert und der ganze Besitz unter den Pionieren geteilt. Alle "geeigneten und freien" Siedler erhalten Land und Vieh - ausgenommen diejenigen, die als Angestellte in Haushalten und in der Landwirtschaft arbeiten. Und wohl auch einige, die des Besitzes nicht für wert befunden werden.

 

Die noch ausstehenden Schulden gegenüber den Finanziers der Gesellschaft übernehmen Bradford und einige andere und erhalten im Gegenzug für sechs Jahre ein Pelzhandelsmonopol. Erst 1642 sind alle Verpflichtungen abbezahlt.

 

Plymouth ist inzwischen erheblich gewachsen. Fast jedes Jahr sind Schiffe mit neuen Siedlern gekommen. Laut Bradford bestand die Kolonie 1624 aus 124 Mitgliedern. Sechs Jahre später sind es 300, 1637 dann 550. Neue Siedlungen entstehen, um das Territorium der Kolonie zu vergrößern, Handelsposten einzurichten und Land für die neuen Siedler bereitzustellen.

 

Oft gehen diese Gründungen auf Initiative einzelner Pioniere zurück, die Plymouth verlassen. Schon vor 1630 hat sich eine Gruppe in Duxbury angesiedelt. 1636 wir die Stadt Scituate in die Kolonie eingegliedert, und um 1650 sind acht weitere Städte gegründet.

 

Bradford und andere Siedler sehen diese Entwicklung mit Sorge, weil eine wahre Gemeinschaft Gottes eine enge und geschlossene Siedlungspolitik brauche. Wie ein trauriger Refrain durchzieht seine Klage die späten Kapitel seines Buches: "Ich fürchte, das wird der Untergang von Neuengland sein, zumindest der Kirchen Gottes, und wird Gottes Misfallen erregen."

 

Mit der wachsenden Bevölkerung stellen sich der Kolonie neue Probleme. Von Anfang an existierte in Plymouth keine homogene Gemeinschaft - schon zur ersten "Mayflower"-Gruppe gehörten ja auch strangers. Und in den folgenden Jahren sind unter den Neuankömmlingen oft auch Siedler, die der anglikanischen Staatskirche angehören oder nicht das Gemeinschaftsideal der ersten Siedler teilen. Immer häufiger sind die saints in ihren Gemeinden in der Minderheit.

 

Zu den Unterschieden zwischen Heiligen und Verdammten gesellen sich die zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Obwohl die saints ihrer Berufung mit Fleiß nachgehen sollen, dürfen sie doch den Reichtum nicht lieben. Dabei sind die Versuchungen beträchtlich: Die Neuankömmlinge brauchen Vieh und Getreide und sind auch bereit, hohe Preise zu bezahlen.

 

Auch der Verführungskraft des leeren, unbebauten Landes erliegen viele Puritaner, vor allem junge Leute, die eine gesicherte wirtschaftliche Existenz auf besserem Boden der engen Gemeinschaft vorziehen.

 

Viele Siedler wandern deshalb in die 1629 gegründete Massachusetts Bay Colony ab. Die junge puritanische Nachbarkolonie hat von Anfang an bessere Startbedingungen. Die aus England kommenden Siedler sind wohlhabender und bringen Werkzeuge und Waren mit. Und schon 1630 erhöht sich ihre Zahl auf mehr als 1000 Einwohner. Vier Jahre später leben 4000 Menschen in 22 Siedlungen. Eine von ihnen, Boston, entwickelt sich zum Zentrum eines schwunghaften Handels mit anderen Kolonien, mit England, Spanien und Portugal und dem karibischen Raum.

 

Der Kolonie Plymouth dagegen fehlen gute Häfen und Kapital; die Verbindungen zu englischen Handelszentren sind schlecht. Wirtschaftliche Zentren entwickeln sich erst gar nicht. Plymouth lebt weiterhin - vor allem, als der Erfolg des Pelzhandels nachlässt - von der Landwirtschaft.

 

Die erste Siedlergeneration stirbt allmählich. Und für alte Leute wie Bradford ist die Indifferenz der jüngeren Generation in Glaubensfragen schwer zu ertragen. Haben die pilgrims nicht die Niederlande verlassen, weil sie ihre Identität wahren wollten? "Und so blieb diese Kirche zurück, wie eine alt gewordene Mutter, vergessen von ihren Kindern. Sie hat viele reich gemacht und wurde darüber selbst arm."

 

Puritanische Strenge und Exklusivität weichen immer weiter auf. Kinder von Erwählten gelten nun ebenfalls als erwählt, ohne sie erst einer Prüfung unterziehen zu müssen. Die Gründe dafür sind eher profaner Natur: Man will die Kirchenbänke füllen und sich gegen die wachsende Zahl nichtpuritanischer Siedler behaupten.

 

Die Auflösung der Gemeinschaft und das Aufweichen der ursprünglichen Ideale führt aber nicht zum völligen Verschwinden der puritanischen Idee. Sondern über mehrere Generationen zu deren allmählicher Umdeutung, Entgrenzung und Veränderung. Die amerikanischen Puritaner, die auf Beständigkeit und Absonderung bedacht sind, die Sünde der Muße meiden und ihrer Berufung mit Fleiß nachgehen, erhalten später den Spitznamen yankee, mit dem sich die Eigenschaften Einfallsreichtum, Scharfsinn und Sparsamkeit verbinden.

 

Die Gemeinschaft der auserwählten saints wandelt sich zur auserwählten Nation. Aus dem Sendungsziel, die Reformation zu vollenden und der Welt durch das eigene Beispiel ein Leuchtturm zu sein, leiten die Amerikaner sehr viel später auch den missionarischen Auftrag ab, der Welt Freiheit und Demokratie zu bringen.

 

An die Stelle der Sünder, gegen die sich die Erwählten abgrenzen müssen, treten immer neue Feinde, die ein böses Weltprinzip verkörpern - erst die Indianer, dann die Franzosen, schließlich Briten und Mexikaner. Und die Erwartung der Erlösung wird - in der Unabhängigkeitserklärung - zum Freibrief für jeden, sein Glück zu suchen, zum "pursuit of happiness". Diese Verschmelzung von Christentum und demokratischer Mission macht Amerika schließlich zu einer "Nation mit der Seele einer Kirche", so der britische Autor G.K. Chesterton.

 

1657 stirbt Bradford. Er erlebt das Ende des unabhängigen Plymouth nicht mehr. Die kleine Kolonie, die noch immer keine königliche charter besitzt, wird 1691 mit Massachusetts zusammengelegt. Zu dieser Zeit hat Plymouth längst seine Identität verloren.

 

Zehn Jahre nach Bradfords Tod wird in England John Miltons Werk "Paradise Lost" veröffentlicht. Vetrieben aus dem Garten Eden, erwartet Adam darin die große Schlacht, in der Satan besiegt wird und die Menschen reuevoll, aber erneuert in den Garten Eden zurückkehren. Der Erzengel Michael aber enttäuscht Adams Hoffnung: Es wird kein Ende des Übels geben, das in der Welt ist. Hunger, Krankheit, Leid, Hass, Neid und unendliche Mühsal sind die unabänderlichen Bestandteile menschlicher Existenz.

 

Der Puritaner Milton schließt die Möglichkeit einer gottgefälligen Gesellschaft nicht aus, aber für ihn gibt es solche Triumphe nur für kurze Momente - ehe Sünde und Tod erneut die Oberhand gewinnen.

 

GEO EPOCHE. Das Magazin für Geschichte; Nr 11, Herbst 2003