Die Kraft der Siedler

 

Peter Bender

 

Frühe europäische Versuche, Nordamerika zu besiedeln, blieben ohne dauerhaften Erfolg. Erst aus den englischen Kolonien wuchs binnen weniger Generationen eine Weltmacht heran. Was ermöglichte diesen beispiellosen Aufstieg?

 

Die Frage nach den "Ursachen der Größe Roms" hat Historiker über Jahrhunderte beschäftigt - ähnlich wird es mit der Überlegung sein, wie aus 13 britischen Kolonien, die sich vom Mutterland freikämpften, der mächtigste Staat der Weltgeschichte wurde. Sicher erscheint, was einer der nachdenklichsten Köpfe Amerikas, der demokratische Senator William Fulbright, vor mehr als 30 Jahren schrieb: "Die USA sind im 20. Jahrhundert nicht wegen ihrer Unternehmungen in der Außenpolitik zu einer Weltmacht geworden, sondern weil sie das 19. Jahrhundert dazu genutzt haben, den nordamerikanischen Kontinent zu entwickeln."

 

Dieser Kontinent war reich und riesig, die Menschen, die ihn in Besitz nahmen, waren ungewöhnlich durchsetzungsfähig und wurden von einem Expansionsdrang getrieben, für den es kaum Vergleiche gibt. Das Land bot im Überfluss alles, was Menschen brauchen: Böden in unterschiedlichen Klimazonen für den Anbau vom Weizen bis zur Baumwolle, ferner Kohle, Öl und Gas sowie Eisenerz und die meisten anderen Erze für die Industrie, nicht zu vergessen Gold für die Abenteurer. Schließlich 8000 Kilometer Küsten an zwei Weltmeeren für Seefahrt und Handel mit der Welt.

 

Die weißen Amerikaner nahmen ein riesiges Land in Besitz, das viel leeren Raum bot und ihnen gänzlich leer erschien; die Besiedelung Amerikas, so glaubten sie, begann erst mit ihnen. Wohin sie kamen, sie stießen nur auf Indianer, die sie als in ihren Augen zivilisatorisch Unterlegene verdrängten oder ausrotteten.

 

Ernstere Gegner waren die europäischen Kolonialmächte, die sich der Ausdehnung der Vereinigten Staaten widersetzten. Aber die Amerikaner hatten den Vorteil, Amerikaner zu sein - sie lebten auf diesem Kontinent. Die Europäer blieben Europäer. Sie wachten zwar eifersüchtig über ihre Kolonien, aber Kolonien sind nur Besitz und nicht Heimat. Besitz kann man verkaufen, Heimat nicht. So kauften die Vereinigten Staaten Russen und Franzosen aus ihrem Kontinent heraus, versuchten auch, den Mexikanern Kalifornien abzukaufen, und setzten erst Gewalt ein, als sie mit Dollars nicht weiterkamen.

 

Das vielleicht größte Glück, das die Amerikaner mit ihrem Land hatten, war dessen Sicherheit. "Im Norden ein schwaches Kanada, im Süden ein schwaches Mexiko, im Osten Fische, im Westen Fische", lautete ein Sprichwort aus dem 19. Jahrhundert. Ebenso urteilte noch 1940 der Ausschuss des Senats für Flottenfragen: "Von möglichen Feinden in Ost und West sind wir durch breite und tiefe Ozeane getrennt, an unseren nördlichen und südlichen Grenzen leben Nationen, die sich bisher freundlich zeigten." Erst der Terroranschlag vom 11. September 2001 verletzte Amerika selbst - erstmals seit 1814, als britische Truppen Washington besetzten und die öffentlichen Gebäude anzündeten.

 

Eine durchsetzungsfähige Nation waren die Amerikaner, auch weil sie von Auswanderern abstammten und sich durch immer neue Auswanderer ergänzten. Wer seine Heimat verlässt, gleich aus welchen Gründen, ist meist energischer und eher bereit zum Risiko als andere, die bleiben. Wer sich nicht in ein gemachtes Nest setzen kann, braucht Pioniergeist, um den Kampf mit der Natur, den Ureinwohnern (denen man das Land rauben musste) und Konkurrenten zu bestehen.

 

Schon 24 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung, 1800, hatte sich die Zahl der Amerikaner verdoppelt, von zweieinhalb auf fünf Millionen. 50 Jahre später zählten sie bereits 23 Millionen und am Ende des Jahrhunderts, 1890, knapp 63 Millionen. Die Siedler waren die eigentlichen Eroberer Nordamerikas, sie bildeten eine Kraft, der niemand gewachsen war. Spanier und Briten fürchteten sie. Die Mexikaner erlaubten zeitweise legale Einwanderung, um die illegale zu stoppen - vergebens. Die Briten planten einen indianischen Pufferstaat gegen das Vordringen der Siedler nach Nordwesten, gaben aber bald auf.

 

Die Bewegung war unaufhaltsam. Nie haben so viele Menschen in so kurzer Zeit so viel Land besetzt, besiedelt und bebaut. Die Expansion folgte einem oft gleichen Muster. Die Siedler sickerten in dünn bevölkertes Gebiet ein, wuchsen zur Mehrheit dort, erklärten ihre Unabhängigkeit und ließen sich dann von den Vereinigten Staaten eingemeinden.

 

Ebenso stürmisch verlief die Industrialisierung. Alexis de Tocqueville, der klügste und schärfste Beobachter Amerikas in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, sah "kein Volk auf Erden, das so rasche Fortschritte in Handel und Industrie erzielt hat wie die Amerikaner". Deren genialer praktischer Verstand entwickelte dann technische und ökonomische Verfahren, die erstmals Massenproduktion und Massenabsatz ermöglichten.

 

Zu Ende des 19. Jahrhunderts stießen die Erfolge an Grenzen - geographisch durch die Ausdehnung bis zum Pazifik, ökonomisch durch Überproduktion. Landwirtschaft und Industrie erzeugten mehr, als Amerika verbrauchen konnte, und so wurde Export zum Lebensgesetz und ist es bis heute. Amerika braucht Absatzmärkte, denn - davon sind seine führenden Ökonomen überzeugt - nur wenn seine Wirtschaft gedeiht, bleibt der soziale Frieden gewahrt und die Demokratie gesichert.

 

Und was war der Motor? Was setzte und hielt die unheimliche Dynamik in Gang? "Es gibt vielleicht auf Erden kein Land", schrieb Tocqueville, "in dem man so wenig Müßige antrifft wie in Amerika und wo alle Arbeitenden so glühend nach Wohlstand trachten." Ein Farmer von der Frontier berichtete: "Die Leute von Kentucky sind voller Unternehmungslust, so raubgierig, wie es die alten Römer waren." In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrieben Räuberbarone einen wilden Raubkapitalismus.

 

Ungehemmter Egoismus was geheiligt durch den festen Glauben an die Einmaligkeit und Auserwähltheit der amerikanischen Nation, die sich von den geknechteten und moralisch verkommenen Europäern nicht nur unterschied, sondern die Mission zu haben glaubte, der Welt das wahre Christentum vorzuleben und sie zu Republik und Demokratie zu bekehren. Das Bibel-Pathos, mit dem amerikanische Politiker Europa noch heute befremden, hat seine Wurzeln in der Frühzeit der englischen Kolonien.

 

Ideologisch beflügelt und im Bewusstsein physischer Kraft zeigte schon die Generation der Gründungsväter ein ungeheures Selbstbewusstsein: Amerika gehöre allein den Amerikanern, und den Vereinigten Staaten gebühre die Herrschaft über den Kontinent. Das sei ein "Naturgesetz wie die Tatsache, dass der Mississippi sich ins Meer ergießt", notierte Außenminister John Quincy Adams 1819. Im Juli 1895 forderte dessen Nachfolger Richard Olney ein Interventionsrecht in ganz Amerika, denn "heute sind die Vereinigten Staaten praktisch der Souverän dieses Kontinents". Zuerst wollten die USA mehr, als sie konnten, doch mit der Zeit konnten sie, was sie wollten.

 

Ihr Erfolgsgeheimnis war, was sie der Welt predigten: Freiheit (auch wenn dies nicht für Sklaven oder Indianer galt). Nicht nur die Freiheit von Fürstenwillkür, Leibeigenschaft, Zunftzwang und konfessioneller Intoleranz lockte die Auswanderer aus der Enge Europas. Sondern auch die Freiheit zur Weite Amerikas, zur Verfolgung des eigenen Glücks, zur Aufnahme jeder Tätigkeit, die man sich zutraute, zur Landnahme so weit, wie man es schaffte. Die Freiheit also zum Streben nach immer neuen Grenzen.

 

Die Vereinigten Staaten wurden stark, weil sie privater Initiative, Unternehmungslust und persönlichem Wagemut weitgehend freien Lauf ließen. Während in Europa Staat und Tradition Grenzen zogen, wurden in Amerika ungeheure Energien freigesetzt und konnten sich entfalten. Die Entfesselung des Erwerbstriebs brachte unglaubliche Leistungen hervor und entsetzliches Elend. Amerika wurde zum Paradebeispiel dafür, was ohne Staat möglich ist - und was ohne ihn versäumt wird. Die historische Bilanz zeigt jedoch, dass der private Gewinn und Erfolg häufig auch zum Gewinn und Erfolg der Nation wurde.

 

Zwei glückliche Umstände ermöglichten den Aufstieg. Amerika lag buchstäblich weit vom Schuss. Europa, das Zentrum der Welt, wo das ganze 19. Jahrhundert hindurch geschossen wurde, war mit sich selbst beschäftigt. Amerika lag ferner im Schutz zweier Ozeane und war klug genug, sich von dort nicht hervorzuwagen, solange es nicht die Kraft dazu hatte. Schon der erste Präsident, George Washington, hatte gemahnt: Handel treiben mit allen, aber nicht sich hineinziehen lassen in die endlosen Kämpfe der Europäer!

 

Kaum gestört von außen, konnte Amerika im 19. Jahrhundert Amerika werden: seinen Charakter ausprägen, seine Ideale festigen, seine Mythen bilden, seine Verfassung verwirklichen, zur Nation zusammenwachsen, immense wirtschaftliche Kräfte entwickeln, politische Macht aufbauen. Am Ende des Jahrhunderts hatten sich die Vereinigten Staaten als Vormacht ganz Amerikas durchgesetzt. Spanien räumte seine letzten Kolonien in der Neuen Welt, Großbritannien zog seine Flotte aus der Karibik ab und überließ den USA Bau und Kontrolle eines Kanals vom Atlantik zum Pazifik. Die Regionalmacht war zur Weltmacht aufgestiegen.

 

20 Jahre später entschied sie den Ersten Weltkrieg.

 

GEO EPOCHE. Das Magazin für Geschichte; Nr 11: Amerikas Weg zur Weltmacht 1498 - 1898, Herbst 2003; Gruner & Jahr, Hamburg, Seite 26 f.