Hellmuth Karasek: Citizen Kane
Ein Zeitungstycoon stirbt, einsam und ohne einen ihm nahestehenden Menschen, in seinem düsteren, mit antikem Ramsch überladenen und unfertigen Prunkschloss Xanadu. Bevor er stirbt, fällt ihm eine Glaskugel mit künstlichen Schneeflocken aus den erstarrenden Händen, und seine Lippen formen das Rätselwort "Rosebud" (Rosenknospe), das berühmteste (und unentschlüsseIte) Schlüsselwort der Filmgeschichte.
Während die Wochenschau "News of March" Stationen des widersprüchlichen Lebens von Charles Foster Kane zeigt, diskutieren Zeitungsleute, wie sie diesen Beitrag vervollständigen können, der sie noch unbefriedigt lässt. Der Reporter Thomson wird losgeschickt, das Rätsel Rosebud und damit das Rätsel Kane zu lösen. Fünf Menschen, die Kane nahestanden, erzählen in fünf Rückblenden Episoden aus dem Leben des Zeitungsgiganten, das Rätsel Rosebud lösen sie nicht. Für den Zuschauer wird es - scheinbar - gelöst, indem unmittelbar vor dem Ende der Geschichte Kanes Kinderschlitten als Ramsch in einen Ofen geworfen wird, wo er verbrennt: Das Wort Rosebud glüht kurz als Name des Schlittens von seiner lackierten Oberfläche auf. Rosebud, ein verlorener, nie wieder erreichter Kindertraum? Kann ein Wort ein Leben erklären, seine Verlorenheit und sein Scheitern (im größten Erfolg und in der Fülle von Macht und Ansehen)? Der Film beginnt mit einem Blick auf das Gitter von Xanadu, an dem "No trespassing" steht. So endet der Film auch: "No trespassing" - "Kein Durchgang". Das gilt auch für das Leben Kanes und sein unerklärtes, nicht auf flache Psychologie vom Verlust der Kindheit reduziertes Leben.
In der bittersten und vielleicht schönsten Episode im Leben Kanes, die deshalb auch gleich in zwei Rückblenden, also aus zwei Perspektiven, erzählt wird, schildert der Film, wie Kane aus seiner unbegabten zweiten Frau Susan Alexander (Dorothy Comingmore) eine Opernsängerin um jeden Preis machen will, eher aus Eigenliebe als aus Liebe - vor allem aber, weil die Zeitungen in ihren Berichten über seine Affäre mit ihr, während er noch mit der Nichte des Präsidenten der Vereinigten Staaten verheiratet war, sie als "Sängerin" (in Anführungszeichen) bezeichnet hatten. Diese Anführungszeichen will er (ähnlich besessen wie später Honecker in der "DDR") aus der Welt schaffen: Er baut ihr in Chicago ein teures Opernhaus, ermöglicht ihr den exquisitesten Gesangsunterricht und kauft für sie eine Opernaufführung zusammen. Da ihm alle wichtigen Zeitungen gehören und sein bester Jugend- und Studienfreund Kritiker ist (Joseph Cotten), scheint auch für den Ruhm gesorgt. Doch die Vorstellung wird ein Desaster. Ray Collins, der Kritiker, hängt total besoffen über seiner Schreibmaschine, den Verriss halb fertig geschrieben. Kane kommt herein, sieht seinen Freund, dessen Kritik und schreibt den Verriss zu Ende.
Dann zu Collins: "You are fired! - Du bist entlassen!" Ende einer Freundschaft, Ende der Unabhängigkeitsprinzipien, mit denen der junge Kane seine Karriere ungestüm mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und unbändigem Wahrheitsdrang begonnen hatte.
Es mag vor allem diese Episode gewesen sein, die zum unbarmherzigsten Krieg des allmächtigen Pressezaren William Randolph Hearst gegen Welles, seinen Film und die Produktionsfirma RKO führte. Hearst, der mit der um Jahrzehnte jüngeren Schauspielerin Marion Davis liiert war, die er mit Hilfe seiner Zeitungen vergeblich zum großen Hollywood-Star hochzujubeln suchte und der sich mit der MGM krachte, als sie die Davis nicht besetzte, mag Parallelen in der Sängerinnen-Affäre gesehen haben und erklärte Hollywoods RKO und dem Film den totalen Krieg. Er ließ RKO-Filme in seinen zahllosen Zeitungen nicht mehr besprechen, versuchte durch seine Klatschkolumnistin, die allmächtige LoueIla Parsons, die Filmbranche mit Enthüllungsdrohungen aus dem Privatleben der Filmmächtigen zu erpressen und ließ Louis B. Mayer von der RKO fast eine Million für das Filmnegativ zwecks dessen Vernichtung bieten.
Welles schwor Stein und Bein, der Film sei kein boshaftes Hearst-Porträt - Xanadu, das düstere, mit Kunstschätzen vollgestopfte Schloß, sei nicht San Simeon, die nördlich von L. A. gelegene Luxusfeste Hearsts, auf der man noch heute seine zusammengeramschte Kunstsammlung bewundern und ihre Ähnlichkeit mit der Citizen Kane-Ausstellung bestaunen kann. Es nutzte nichts. Trotz begeisterter Kritiker mussten viele Filmtheater Citizen Kane boykottieren. Bei der Oscar-Feier wurde er schon bei der bloßen Erwähnung ausgebuht. Und er machte 160 000 Dollar Defizit. Und das, obwohl Citizen Kane als "der beste Tonfilm Amerikas" (Kael), als der neben Griffith' Birth of a Nation wichtigste US-Film gilt. Und obwohl Kritiker in aller Welt in ihrer Dekadenwahl seit 1952 Citizen Kane immer wieder, also '62, '72, '82, vor Renoirs La Règle du Jeu auf Platz 1 der besten zehn Filme gewählt haben. (Von dem von Pauline Kael mutwillig vom Zaun gebrochenen Streit, ob das Drehbuch von Welles oder nur von Mankiewicz stammt, soll hier geschwiegen werden.)
Die brillant mit Verschränkungen, Überschneidungen, Überblendungen und Zeitraffungen arbeitende Rückblendentechnik (Preston Sturges' Drehbuch zu The Power and the Glory gilt als Anreger und Vorläufer) "ist der erste, auf Anhieb geglückte Versuch, das Phänomen Zeit in den Griff zu bekommen" (so Volker Jansen). Das Thema des Films zeigt, so Charles Higham, "die Desillusionierung des amerikanischen Traums", den Wandel Kanes von einem himmelstürmenden Idealisten zu einem vereinsamten, durch Kompromisse und Korruption zerstörten Egomanen: "Alles, was die amerikanische Gesellschaft für erstrebenswert hält - Erfolg, Reichtum, Macht -, erweist sich als leer, bedeutunglos und hohl."
Kanes Erfolg und Unglück hat seine Wurzeln in der Kindheit: als ihn seine Mutter, durch Bodenschätze als Farmersfrau plötzlich reich, der erzieherischen Obhut eines Bankenkonsortiums übergibt. Kane wird von allen Schulen gewiesen, aber dem charmanten, undisziplinierten Genie fliegt dennoch der Erfolg zu, er reüssiert bei den Frauen, bei den Freunden, im Beruf. Aber da er alles erreicht, zerstört sich ihm auch alles: Welles' Film zeigt in brillierenden Bildern des Erfolgs, die von retardierenden Szenen expressionistischer Düsternis abgelöst werden, wie das ennui, die Nichtigkeit, Langeweile und Eigenliebe, dieses Leben nur zur Selbstzerstörung emportreiben.
Allerdings haben Kritiker in die Bewunderung und Begeisterung über diesen Film immer auch schon den Einwand eingefügt, dass seine stupende Technik, sein geradezu jongleurhafter Umgang mit den Möglichkeiten der Filmstudios sich als "Kälte" zwischen den Film und den Zuschauer stellt: Orson Welles fordert eher zur Bewunderung für seine artistische Bravour als zur Anteilnahme heraus. So wurde der Film auch nach Ende des Hearst-Boykotts kein Kassenerfolg.
Als Meisterbeispiele der Technik gelten Szenenfolgen wie die, in denen Welles in zweieinhalb Minuten geschickt geschnittener Frühstücksbilder (zuerst traut und turtelnd vereint, dann durch feindliche Zeitungslektüre getrennt) das Scheitern einer Ehe zusammenrafft. Das beständige Puzzle-Legen der Frau erscheint darüber hinaus als Abbild der Grundstruktur des Films. Ein weiteres Kabinettstück zeigt, wie in einer Reihe von Überblendungen Probe, Premiere und Scheitern einer Opernaufführung wirksam kondensiert wird.
Welles hat behauptet, er habe sich zur "Schulung" für Citizen Kane an die 40 Mal John Fords Stagecoach angesehen. Welch ein (glückliches) Missverständnis - zwei Filme, die verschiedener nicht sein könnten.
Im Unterschied zu Howard Hawks, der sich rühmte, die Kamera immer in Augenhöhe seiner Personen zu halten, im Unterschied zu Ford, der seine ruhige, gleichmäßige Kamera zur objektiven Erzählung anhält und bei dem ein einzelner Schwenk daher eine sensationelle Signalwirkung provoziert, im Unterschied zu Billy Wilder, der es als ideal (und redlich) empfand, wenn der Zuschauer überhaupt nichts von der Kamera wahrnahm, die sich nicht selbst produzieren und aufspielen sollte - im Unterschied zu diesen Regisseuren setzte Welles die Kamera in Citizen Kane mit extremer Wirkung "propagandistisch" und "manipulativ" ein: Also verzerrte eine extreme Untersicht die Figuren ins Überlebensgroße, also erzeugten ein Hallton, Spiegelreflexe und eine extreme Tiefenschärfe eine beängstigend imponierende Weite und Größe des Raums. Auf die Gesichter fielen, um sie zu verrätseln, die Schatten des Expressionismus, manchmal, bis sie zu Scherenschnitten wurden. Citizen Kane ist ein Meisterwerk, aber keines der Bescheidenheit und Selbstbescheidung, sondern der Brillanz, die den Regisseur und Schauspieler Orson Welles durchaus als Geistesverwandten Kanes zeigt: Ein Porträt Hearsts? Ein Porträt der Macht schlechthin und ihrer Korruption? Ein Selbstporträt?
Hellmuth Karasek: Citizen Kane. In: Mein Kino. Die 100 schönsten Filme; Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 1994, Seiten 146 - 151