K I N O
Treppauf, treppab
Robert Altmans Film "Gosford Park" feiert Englands Schauspieler und attackiert die Klassengesellschaft
Von Katja Nicodemus
Er gilt als wandelnder Röntgenapparat und kulturpessimistischer Sezierer amerikanischer Lebensweisen. Deshalb gibt es in den Filmen von Robert Altman zwar immer wieder sympathische oder auch rührende Figuren, aber so richtig nahe kommt man ihnen nicht. Vielleicht auch, weil sie immer für mehr stehen müssen als sich selbst, sei es ein Typus, eine Schicht oder eine Haltung. Mit 77 Jahren hat er nun das wohl klassenkämpferischste Werk seiner Karriere gedreht, eben einen Altman-Film, in dem jede Figur wieder eine ganz bestimmte soziokulturelle Aussage verkörpert. Aber ausgerechnet in Gosford Park, einer geradezu marxistischen Entfremdungskritik, die im England des Jahres 1936 spielt, liebt er seine Figuren nun so zärtlich und bedingungslos wie nie zuvor.
Dabei ist es auf den ersten Blick eine fürchterlich morbide, streng in Herrschaften und Diener getrennte Gesellschaft, die sich auf einem luxuriösen Landsitz versammelt. Schon die erste Szene ist von purer Grausamkeit, nur erzählt sie von der Klassentrennung so beiläufig und natürlich, dass sie uns fast entgehen könnte: Zwei Rolls-Royce begegnen sich auf einsamer Landstraße. Während sich die Insassen von Wagen zu Wagen unterhalten, hält eine Zofe im strömenden Regen die Tür auf. In der Konversation erfahren wir alles über das Ausflugsziel (eine Jagdgesellschaft bei Sir William McCordle), über die Gastgeber (versnobt) und den allgemeinen Umgangston (verlogen). Am Ende des kurzen Geplänkels ist die Bedienstete bis auf die Haut durchnässt, und der Film kann losgehen.
Angelehnt an eine hingetupfte Agatha-Christie-Intrige, ist es der Rhythmus des Boulevards mit seinem Türenschlagen und Treppensteigen, Tratschen, Flüstern und Lauschen, der Altman in Gosford Park als musikalische Grundform dient. Als große gemeinsame Bewegungspartitur, in der sich Oben und Unten für die Dauer einer Jagdpartie kreuzen und vermischen werden. Aus dem fließenden Nebeneinander von Gästen und Personal tauchen Schicksals- und Charaktersplitter empor, Vignetten der Berechnung und bodenlosen Arroganz, aber auch die Andeutung von unerfüllter Sehnsucht, Einsamkeit und Verzweiflung.
Angestrengtes Nichtstun
Upstairs, inmitten ihrer Gäste, geht Kristin Scott Thomas als blasierte Hausherrin dem Nichtstun nach. Aus Gesprächsfetzen entsteht das Bild einer Frau, die von ihrem adeligen Vater irgendwann als Existenzsicherung verscherbelt wurde und nun alle Frustration ihrer eisigen Ehe am wesentlich älteren Gattentrottel auslässt. Aus Langeweile und Gewohnheit erklärt die Runde das Abschießen von ein paar armseligen Fasanen zum großen Gesellschaftsritual und lässt Salongespräche über das Wetter in Schottland beim Bridge versanden. Derweil tobt hinter den süßlichen Konversationsfassaden ein verbissener Kampf um Monatswechsel und Renten, gute Partien und Affären.
Downstairs, in den düsteren unteren Etagen des Landsitzes, vollzieht sich die mühsame Herstellung des Luxus. Im Ineinandergreifen der riesigen Dienerschar besitzt auch das kleinste Küchenmädchen ein Wesen, ein Gesicht, zumindest die Andeutung einer Geschichte. Immer wieder verweilt die Kamera auf Emily Watson, wenn sie als Kammerzofe Elsie im breitesten Cockney ihre Herrin imitiert, mit verwegener Lässigkeit die Fluppe im Mundwinkel hängen lässt oder sich in der Badewanne ein Tabakkrümelchen vom Mund schnippt. Diese Szene zweier gehetzter Dienstmädchen, die nur im warm umdampften, vorübergehend herrschafts- und anweisungsfreien Badezimmer unbeschwert plaudern dürfen, verströmt eine seltsame Trauer. Vielleicht muss man einfach Mitte 70 und Robert Altman sein, um auf so einfache und mitfühlende Weise über die absurde Ungerechtigkeit des Lebens zu staunen.
Jenseits der seltenen Pausen besteht die untere Hälfte von Gosford Park aus einer unendlichen Anzahl von Handgriffen und Darreichungen, geordnet nach strengen Abläufen und Regularien. Ob Messer gezählt, Silber gepuzt, Schuhe gewienert oder Socken eingesammelt werden, ob Helen Mirren als gegen das eigene Unglück gepanzerte Hausdame altes Leinen inventarisiert oder der Chefbutler milimetergenaue Gedeckabstände vermisst - es ist Altmans respektvoller Blick auf die physische Arbeit des Dienens, der den Einzelnen immer wieder aus der schneidenden Analyse einer Gesellschaft heraushebt, die ihn zwingt, sich selbst zum Niemand zu machen. Dabei vollzieht sich eine gespenstische Spiegelung der Hierarchien: Auf dem fremden Landsitz bekommen die zugereisten Diener pragmatischerweise die Namen ihrer Herrschaften zugeordnet und übernehmen deren Sitzordnung auch bei den eigenen Mahlzeiten.
Altmans spezifische Modernität liegt nicht nur in diesem zeitlosen Blick auf eine Gesellschaft, die weniger veraltet ist, als ihre seidenfließenden Dreißiger-Jahre-Kostüme vermuten lassen, und deren derzeitiges Staatsoberhaupt gerade ein sattes Thronjubiläum hinter sich hat. Wie immer entsteht die Gegenwärtigkeit seiner Erzählung auch aus der ungeheuren Freiheit im Umgang mit dem filmischen Raum: Wenn die dahingleitenden Kameras hier ein Stückchen Konversation und dort das Ende eines Satzes auffangen, wenn sich im Fluss der überlappenden, abreißenden und verebbenden Dialoge immer wieder Leerstellen ergeben und sich die Figuren allein durch die Form doch noch zum großen gemeinsamen Ganzen verbinden.
Einmal stimmt der ebenfalls unter den Gästen weilende Filmstar Ivor Novello am Flügel einen schmalzigen Schlager an. Für einen kurzen, hinter den Salontüren verborgenen Augenblick steht das Räderwerk der Dienstboten still, wird aus Köchinnen, Butlern und Kammerdienern ein Publikum, das im geheimen Lauschen zum ersten Mal so etwas wie Gemeinsamkeit erfährt.
Dass die adligen Snobs in ihrem eigenen Anachronismus erstarren, liegt auch an ihrer ignoranten Ablehnung von Film und Schlager als verachteten Unterhaltungsmedien. Hingegen sind es die Dienstboten, die sich bereits in die Popmoderne vortasten, in ihren Zimmern Greta-Garbo-Poster aufhängen, von Charlie-Chan-Filmen schwärmen und die Anwesenheit des Stars aufgeregt als Sensation begreifen.
Obwohl über der Schlagerszene durchaus ein stilles Versprechen liegt, würde sich Altman natürlich nie zu einer derart trivialen Utopie herablassen. Schließlich haben seine eigenen Filme das befreiende Potenzial der hier so unschuldig anbrechenden Populärkultur immer wieder in Abrede gestellt. Ein Spielverderber will er allerdings auch nicht sein. "The land different from this place below" - so darf die Illusion der schmalzigen Liedzeile noch einen langen, unwidersprochenen Augenblick im Raum stehen, bevor hinter der fahl dahindämmernden Klassengesellschaft von Gosford Park schon der böse Schein der Kulturindustrie heraufzieht.