Erste Strophe
Marleys Geist
Marley war tot; damit wollen wir anfangen. Darüber gibt's nicht den leisesten Zweifel. Sein Totenschein war vom Geistlichen, vom Notar, vom Leichenbestatter und vom Hauptleidtragenden unterzeichnet. Scrooge hatte unterschrieben, und Scrooges Name war an der Börse gut für alles, wozu er ihn hergab.
Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel.
Wohlgemerkt, ich will damit nicht behaupten, dass ich aus eigener Erfahrung wüsste, was an einem Türnagel so ganz besonders tot ist. Ich für meine Person wäre eher geneigt, einen Sargnagel als das toteste Stück Eisen zu betrachten, das im Handel ist. Allein das Gleichnis bewahrt die Weisheit unserer Ahnen auf, und meine unheilige Hand soll nicht daran rütteln, sonst ist's aus mit unserem Land. Man wird mir daher erlauben, mit Nachdruck zu wiederholen, dass Marley so tot war wie ein Türnagel.
Wusste Scrooge, dass er tot war? Natürlich wusste er's. Wie konnte es anders sein? Scrooge und er waren ja - ich weiß nicht, wie viele Jahre lang - Geschäftspartner gewesen. Scrooge war Marleys einziger Testamentsvollstrecker, sein einziger Nachlassverwalter, sein einziger Rechtsnachfolger, sein einziger Haupterbe, sein einziger Freund und sein einziger Leidtragender. Und selbst Scrooge war von diesem traurigen Ereignis nicht so furchtbar erschüttert, dass er versäumt hätte, sich selbst am Begräbnistag als geschickter Geschäftsmann zu erweisen und ihn mit einem guten Schnitt zu begehen.
Die Erwähnung von Marleys Begräbnis bringt mich auf den Punkt zurück, von dem ich ausgegangen bin. Es besteht kein Zweifel, dass Marley tot war. Dies muss man begriffen haben, sonst ist nichts Wunderbares an der Geschichte, die ich erzählen will. Wenn wir nicht vollkommen überzeugt wären, dass Hamlets Vater vor Beginn des Stücks gestorben ist, so wäre sein nächtliches Umherwandeln im Ostwind auf dem Wall seines Schlosses um nichts merkwürdiger, als wenn irgendein anderer Herr in mittlerem Alter nach Einbruch der Dunkelheit an irgendeinem windigen Ort - sagen wir zum Beispiel auf dem St. Pauls-Kirchhof - plötzlich hervorträte, um die müde Seele seines Sohnes wachzurütteln.
Charles Dickens: Ein Weihnachtslied in Prosa; übersetzt von Carl Kolb; Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1977