Im Rausch der Maschinen

 

Wer um die Mitte des 18. Jahrhunderts etwas auf sich hielt im alten Europa, ließ sich von der dreißigstündigen Fahrt über den Kanal nicht abschrecken und nahm eine Bildungsreise nach England in sein Programm. Ob Theologe, Geschäftsmann oder preußischer Beamter – die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen sind alle im gleichen Ton erstaunter Begeisterung geschrieben. Ein blühender Garten sei dieses Land, seine Bewohner durchweg besser ernährt und gekleidet als auf dem Kontinent. Solche Beobachtungen stimmen mit den zeitgenössischen englischen Chronisten überein. Aus Nottingham hören wir 1751, dass „selbst eine gewöhnliche Waschfrau glaubt, sie hat kein richtiges Frühstück ohne Tee und frisches Weißbrot mit Butter.“ Aber nicht nur auf der Butter-und-Brot-Ebene lagen die Unterschiede zum Festland. Voltaire schrieb voller Bewunderung: „Der Handel, der die Bürger Englands reich gemacht hat, hat dazu beigetragen, sie frei zu machen, und diese Freiheit hat ihrerseits den Handel erweitert.“

 

Bei allem Lob und dem Gefühl für die besondere Situation Englands war weder Besuchern noch Einheimischen bewußt, dass sie Zeugen und Teilhaber einer Zeitenwende wurden. In den Spinnereien der idyllischen Dörfer von Lancashire, inmitten waldreicher Täler und an klaren Flüssen gelegen, in einsamen Bergwerken des Black Country in Yorkshire, in den Schmieden und Eisenhütten rund um Sheffield, an den prächtigen Hafenbecken von Liverpool setzt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Revolution in Technik, Industrie und Wirtschaft durch, die Leben und Bewußtsein der Menschen quer durch alle Kontinente und Ideologien umkrempelte; eine Revolution, von deren Ergebnissen wir alle profitieren und an deren Erblast wir alle tragen. Wie wir die Herausforderung "englischer Zustände" beantworten, wird den Lauf des 21. Jahrhunderts entscheiden.

 

Der Beginn der Industriellen Revolution, ihre entscheidenden Jahre sind meist in der Erinnerung überlagert von Bildern des 19. Jahrhunderts: hohe, düstere Fabrikgebäude, Slums am Rande der Industriezentren, Kohle, Eisen und Großindustrie beherrschen das Bild. Charles Dickens hat diese menschenunwürdigen Zustände in seinen Büchern beschrieben. Doch als 1830 der erste Zug von Manchester nach Liverpool fuhr, waren die Weichen in eine andere Zukunft schon längst gestellt. Es war die Baumwolle, die – wenn auch nur indirekt – das Gesicht der Erde verändert hat. "Britannia rules the waves" ist noch heute der nostalgische Schlachtruf englischer Patrioten. Das 18. Jahrhundert erlebte den Beginn englischer Weltherrschaft, die darin bestand, die Meere zu beherrschen, sich ferne Länder als Kolonien und damit als Absatzmärkte zu unterwerfen und alle Politik den Interessen des Handels unterzuordnen. Duelle um Ehre und Treue, zahllose Dienerschaft und antiquierter Standesdünkel galten hier nur halb soviel wie auf dem Kontinent.

 

Das soziale Gefüge war erstaunlich durchlässig. Lord Hervey schrieb 1731: „Wir pflegten uns in einer kleinen gemütlichen Gesellschaft von etwa dreißig Personen zum Essen niederzusetzen, bis zum Kinn in Rindfleisch, Wildbret, Gänsen, Truthähnen und gewöhnlich bis über das Kinn in Rotwein, Starkbier und Punsch. Anwesend waren hohe geistliche und weltliche Würdenträger neben Bürgern, Pfarrern und einer größeren Zahl von Freibauern.“ Niemand vergaß, wer im Land das Sagen hatte, doch die Interessen der großen Adelsfamilien, die die Politik bestimmten, waren an Profit und Gewinn ausgerichtet. Wenn die Bürger Unternehmungsgeist zeigten, warum sollte man ihre Aktivitäten bremsen oder einschränken und ihnen nicht einen Aufstieg in die besseren Kreise ermöglichen? Wenn Reformen nötig waren, warum sollte man sie nicht schnell und reibungslos innerhalb des Systems – bei Wahrung der alten Formen und Traditionen – durchsetzen, statt erst auf die Revolution zu warten?

 

In England gab es um diese Zeit keine eigene Bauernschicht mehr, denn fast das ganze Land gehörte dem Adel, der es weiterverpachtete. Warf das Land durch Neuerungen und Industrialisierung mehr Profite ab, um so besser. Die zahllosen Landarbeiter und kleinen Handwerker waren nicht an ihren eigenen Grund und Boden gebunden, auf jeden Groschen angewiesen und deshalb für damalige Verhältnisse ungewöhnlich mobil. Ihre Zahl wuchs im 18. Jahrhundert durch eine Bevölkerungsexplosion und schuf damit weitere wichtige Voraussetzungen für den Erfolg der Industrialisierung in England: einen zusätzlichen Absatzmarkt – neben den Kolonien – für die neuen Waren und Arbeiter für die sich ständig ausweitende Produktion. Diese Produktion betraf vor allem die Baumwolle, die in atemberaubenden Steigerungen aus den britischen Kolonien importiert wurde. 1760 waren es 2,4 Millionen Pfund, dreißig Jahre später das Zehnfache und 1837 runde 366 Millionen Pfund. Menschenhände hätten solche Mengen nicht mehr kostengünstig verarbeiten und der englische Binnenmarkt allein die Produkte nicht aufnehmen können. Zweierlei war geschehen: In Afrika, Indien und China wurden die dünnen englischen Baumwolltücher bei den Armen und den Reichen gleichermaßen beliebt. Man unterschied sich nur in den Vorlieben für Muster und Farben: leuchtend bunt für Afrika, gedeckt für Asien. Und das Entscheidende: Selbst der bescheidenste Hindu in einem indischen Dorf konnte aus der rohen Baumwolle nicht so billig Wolle spinnen wie die neuen Maschinen, die in Mittelengland ausprobiert und in immer größerer Zahl installiert wurden.

 

Friedrich Engels, der Fabrikantensohn aus Barmen, der in Manchester Teilhaber an einer väterlichen Fabrik wurde und so seinen Freund Karl Marx finanziell unterstützen konnte, hat beschrieben, wie im 18. Jahrhundert alles in den grünen Tälern von Lancashire mit der Erfindung der "Jenny" und der "Spinning-Throstle", mechanischen Spinnmaschinen, begann: "Einzelne Kapitalisten fingen an, Jennys in großen Gebäuden aufzustellen und durch Wasserkraft anzutreiben, wodurch sie in den Stand gesetzt wurden, die Arbeiterzahlen zu verringern und ihr Garn wohlfeiler zu verkaufen als die einzelnen Spinner, die bloß mit der Hand die Maschine bewegten ... Und wenn schon hierin der Anfang des Fabriksystems lag, so erhielt dies durch die Spinning-Throstle, die Richard Arkwright, ein Barbier aus Preston in Nord-Lancashire, 1767 erfand, eine neue Ausdehnung. Diese Maschine, im Deutschen gewöhnlich Kettenstuhl genannt, ist neben der Dampfmaschine die wichtigste mechanische Erfindung des achtzehnten Jahrhunderts."

 

Jetzt trieb das Wasser die Maschine an, nicht mehr der Mensch, und die Maschine konnte gleichzeitig die Arbeit mehrerer Menschen ausführen. Im 19. Jahrhundert würde der Dampf die Wasserkraft ablösen und zur neuen Energie werden. Das allein war schon viel. Aber es war noch nicht der Kern der Revolution, das Motiv, das von nun an Räder und Menschen am Laufen halten würde. Richard Arkwright war keinesfalls ein Erfindergenie, sondern einfach skrupellos genug, sich die vergessenen Erfindungen anderer nutzbar zu machen und geschickt zu kombinieren. Vor allem aber hatte er eine Idee im Kopf: Er wollte den Arbeitsprozeß unabhängig von Menschen und Natur und jederzeit kontrollierbar ablaufen lassen. Es wurde die Idee einer neuen Religion, die seitdem die Welt beherrscht – in Ost und West ebenso wie im südlichen Teil der Erdkugel.

 

Revolutionen fallen nicht vom Himmel, umwälzende Neuerungen haben eine lange Vorgeschichte, und wie alle großen Phänomene ist auch die Industrielle Revolution in England nicht durch eine Ursache, nicht einmal durch ein ganzes Bündel von Faktoren restlos erklärbar. Schon die Fugger und Medici waren gewiefte Kapitalisten. Die mittelalterlichen Mönche machten sich jeden technischen Fortschritt zunutze, und die Wollarbeiter im mittelalterlichen Florenz revoltierten gegen schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne. Die Spezialisierung der Handwerker war weit fortgeschritten. Doch bei allem Sinn für das Geschäft arbeitete der mittelalterliche Mensch, um zu leben. Die Arbeit ruhte nicht nur am Sonntag. Auch am Montag, deshalb "guter Montag" genannt, griff niemand zum Werkzeug. Über dreißig kirchliche Feiertage gab es im Jahr, an denen selbstverständlich nicht gearbeitet wurde. War irgendwo eine Hochzeit, ein Begräbnis, eine Kirchweih, dann ließen Gesellen, Lehrlinge und Meister am hellen Tag die Arbeit liegen und machten sich auf zum Feiern. Die neue Generation von englischen Unternehmern und Fabrikanten verfolgte die gegenteilige Philosophie: Der Mensch lebt, um zu arbeiten. Und diese Arbeit sollte von nun an zwei ehernen Gesetzen folgen: strikte Spezialisierung und eiserne Disziplin. Kein Schwätzchen, kein Kartenspiel am Arbeitsplatz. Zeit ist Geld – für alle am Produktionsprozeß Beteiligten. Damit die Arbeiter nicht auf dumme Gedanken kamen, war bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die anerkannte Meinung der Ökonomen, man müsse die Löhne niedrig halten, weil die Arbeiter sonst weniger arbeiten würden.

 

Die neue Religion fand sogleich ihre Propheten und moralischen Unterstützer. Der englische Philosoph Adam Smith schrieb 1776 über den "Wohlstand der Nationen" und entwarf eine Utopie des modernen Kapitalismus: "Die große, durch die Arbeitsteilung herbeigeführte Vervielfältigung der Produkte in allen verschiedenen Künsten bewirkt in einer gut regierten Gesellschaft jene allgemeine Wohlhabenheit, die sich bis zu den untersten Klassen des Volkes erstreckt." Wir sind im Zeitalter der Aufklärung. Die Verfassung der jungen Vereinigten Staaten von Amerika verbrieft jedem Bürger einen "Anspruch auf Glück". Wohlstand für alle ist seitdem Anspruch geblieben, auch wenn die Konkretisierung dieses Ziels zu heftigen Auseinandersetzungen und unterschiedlichen Rezepten geführt hat. "Zeit ist Geld", dieser Slogan vom Beginn der Industriellen Revolution, hat uns ebenfalls bis heute begleitet. Benjamin Franklin hat ihn schon 1748 im Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufgestellt: "Bedenke, dass Zeit auch Geld ist! ... Der Weg zum Reichtum ... hängt meistens von zwei Wörtchen ab: Tätigkeit und Sparsamkeit. Das heißt: verschwende weder Zeit noch Geld, sondern mache von beiden den besten Gebrauch." Und wenn du den besten Gebrauch machst, dann wirst du es schaffen. Dass es für alle die Möglichkeit gibt, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen, haben wir uns inzwischen abgeschminkt. Aber die moralische Quintessenz, die am Anfang der Industriellen Revolution als Credo verkündet wurde, hat sich tief in unser Bewusstsein gesenkt. Der Soziologe Ralf Dahrendorf, ein Kenner der englischen Verhältnisse, verweist auf die bis heute weit verbreitete Überzeugung, dass auch in der Krise jeder sich selbst wieder hocharbeiten könne, und fährt fort: "Frau Thatcher hat, wie das ihre Art ist, dieser Sprache noch einen moralischen Akzent hinzugefügt, indem sie von den deserving poor spricht, also den Armen, die wirklich Hilfe verdienen. In Deutschland klingt das meist gedämpfter, hat aber dieselbe Zielrichtung: Nur wirklich Bedürftigen wird geholfen, im Übrigen sollen sich die Leute selber aus der Misere heraushelfen. Was hier geschieht, ist die Rückkehr hinter den Gedanken sozialer Bürgerrechte. Es ist die Wiederbelebung des Armenrechts ..."

 

Es sind immer einige Wenige, die den allgemeinen Mythos verkörpern und so lebendig halten. Robert Peel (1750-1830) war ein Baumwollpionier der ersten Stunde und wurde der größte und mächtigste Baumwollfabrikant seiner Generation. Sein Vater zog noch mit Wollwaren, die die Familie in Heimarbeit herstellte, durch Lancashire. Sein Sohn wurde Parlamentsmitglied, Begründer der konservativen Partei und 1843 Premierminister.

 

Als die Spinning-Jenny in die Produktion eingeführt wurde, taten sich vereinzelt Menschen zusammen, um die Maschinen, die ihnen die Arbeit wegnahmen, zu zerstören. Aber es ist auch hier nicht möglich, ein durchgängiges Erklärungsmuster zu finden, denn in vielen Orten wurden die Maschinen ohne Widerspruch akzeptiert. Nicht selten waren es Frauen, die aufbegehrten. Denn an den Maschinen mussten sie den unqualifizierten Teil der Arbeit verrichten, der grundsätzlich schlechter bezahlt wurde als der Job der Männer. Doch ihr Kampf war hoffnungslos. Die gewerkschaftsähnlichen Zusammenschlüsse, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts bildeten, schlossen ausdrücklich Frauen aus und bekämpften deren Anspruch auf gleiche Bezahlung.

 

Insgesamt war die Situation in diesen ersten Jahrzehnten der Revolution entspannt, denn es gab genug Arbeit. Wer aufgrund der neuen Maschinen seinen Platz in der Spinnindustrie von Lancashire verlor, brauchte nur ein wenig weiterzuziehen. Kanalarbeiter zum Beispiel wurden gesucht. Der Herzog von Bridgewater hatte die Idee, Manchester durch einen Kanal mit den Kohlebergwerken des Hinterlandes zu verbinden. 1759/60 wurde ein Kanal gebaut, der erstmals nicht dem Verlauf des Flusses folgte, sondern den kürzesten Weg nahm. In wenigen Jahren waren die neuen Industriezentren Mittelenglands untereinander, mit dem expandierenden Liverpooler Hafen und mit London verbunden. Die kürzeren Wege ließen - unter anderem - den Preis pro Tonne Kohlen von 40 auf 7 Shilling sinken. Es war ein Merkmal der neuen Zeit, daßssdie Menschen ständig von neuen, noch nie dagewesenen Dingen erfuhren. Alles wurde größer, besser, bequemer als das Alte, und wieder entstand ein Mythos: dass der Fortschritt von nun an nicht mehr enden würde und dem permanenten Wachstum keine Grenzen gesetzt seien. Als die Löhne zu Beginn des 19. Jahrhunderts sanken, die Preise stiegen, die Menschen überall in den Midlands arbeitslos wurden und rebellierten, nimmt man das hin - Kinderkrankheiten, die bei richtiger Anwendung des industriellen Systems von selbst verschwinden würden. "Manchester Liberalismus" wurde zum Begriff für eine Schule von Ökonomen, die bedingungslos auf die Kräfte des freien, kapitalistischen Marktes vertrauten. Und immer hatten sie ein Beispiel für den Erfolg zur Hand.

 

Kaum war das Wunder des Bridgewater-Kanals verdaut, wurden Matthew Boulton und seine Fabrik in Soho, am Rande von Birmingham in ländlicher Umgebung, zur weltweiten Berühmtheit. Es war keine Übertreibung, wenn Boulton an seinen Londoner Agenten schrieb: "Ich hatte gestern Lords und Ladies zu Besuch; ich habe heute Franzosen und Spanier und morgen Deutsche, Russen und Norweger." Als die im klassizistischen Stil erbaute Metallwarenfabrik 1762 eröffnet wurde, hatte sie 20 000 Pfund gekostet und war für 800 Arbeiter die modernste ihrer Zeit. Boulton organisierte ein perfektes Fabriksystem, das Massen- und Serienware produzierte und in dem jeder Arbeiter ganz bestimmte, genau vorgeschriebene Handgriffe machte. Lord Shelbourne besichtigte die Fabrik 1766: "Ein Knopf geht dort durch fünfzig Hände und jede Hand berührt rund tausend Knöpfe pro Tag. Dadurch wird die Arbeit so vereinfacht, dass fünf von sechs Arbeitern Kinder sind." Dosen und Essbestecke, Krüge, Schreibzeug, Kronleuchter, Knöpfe - alles, was auch nur entfernt mit Metall zusammenhing, wurde von Matthew Boulton hergestellt.

 

Welchen Eindruck Birmingham machte, hat Johanna Schopenhauer, zu ihrer Zeit eine bekannte Schriftstellerin, heute nur noch als Mutter eines berühmten Sohnes in Erinnerung, 1803 auf einer Reise durch England aufgeschrieben: "Die Stadt selber ist schon durch ihre bergige Lage nicht schön, der Rauch der vielen Fabriken und Werkstätten ... gibt ihr ein düsteres, schmutziges Ansehen. Überall hört man Hämmern und Pochen, alles läuft am Tage geschäftig hin und wider, niemand hat Zeit, solange die Sonne leuchtet. Dafür hallen des Abends die Straßen vom Geschrei und Gesängen derer wider, die sich den Tag über unter der schweren Last des Lebens abarbeiten. In den wenigen Stunden, die sie dem alle Sinne lähmenden Schlafe des ermüdeten Arbeiters abstehlen können, suchen sie in Tavernen und Spielhäusern die Freude zu haschen, an die sie am Tag über nicht denken können." Es sollte noch viel schlimmer kommen. In Manchester, Birmingham und Liverpool stieg die Sterberate von 20,7 je 1000 Einwohner 1831 aufgrund der katastrophalen hygienischen Verhältnisse, der engen Wohnungen, der Überarbeitung und Unterernährung auf 30,8 im Jahre 1841.

 

Auch Manchester wird von Johanna Schopenhauer besucht: "Dunkel und vom Kohlendampfe eingeräuchert, sieht sie einer ungeheuren Schmiede oder sonst einer Werkstatt ähnlich. Arbeit, Erwerb, Geldgier scheinen hier die einzige Idee zu sein, überall hört man das Geklapper der Baumwollspinnereien und der Weberstühle, auf allen Gesichtern stehen Zahlen, nichts als Zahlen." In Manchester sah Johanna Schopenhauer etwas, das von Anfang an die Industrielle Revolution begleitet hatte: Kinderarbeit: "Wir besuchten eine der größten Baumwollspinnereien. Eine im Souterrain angebrachte Dampfmaschine setzte alle die fast unzähligen, in vielen übereinandergetürmten Stockwerken angebrachten Räder und Spindeln in Bewegung. Uns schwindelte in diesen großen Sälen bei dem Anblicke des mechanischen Lebens ohne Ende. In jedem derselben sahen wir einige Weiber beschäftigt ... Kinder wickelten und haspelten das gesponnene Garn." 1784 hatten Mediziner in Manchester empfohlen, dass Kinder nicht mehr als zehn Stunden täglich arbeiten sollten. Sie seien sonst überarbeitet, dadurch anfällig für ansteckende Krankheiten und eine Gefahr für die ganze Stadt. 1835 arbeiteten allein in der Baumwollindustrie 28 771 Kinder unter 13 Jahren.

 

Gut zweihundert Jahre nach Beginn der Industriellen Revolution gehören solche Horrorbilder der Vergangenheit an, haben Wissenschaftler schon das postindustrielle Zeitalter ausgerufen. Doch der Streit um Begriffe verblasst vor den Tatsachen: Der Arbeitsgesellschaft, die damals in den Fabriken und in den Köpfen der Menschen begründet wurde, geht die Arbeit aus. In den Slums von Liverpool und Birmingham wird auf drastische Weise eine "neue Armut" und eine "neue soziale Frage" sichtbar. Einst war England Sonderfall und Modell einer alles umstürzenden Entwicklung zugleich. Was bedeuten heute die Ausbrüche von aggressiver Verzweiflung? Sind sie ein Menetekel für das, was die industrialisierte Welt noch vor sich hat?

 

Ernst Friedrich Schumacher verließ 1937 Nazi-Deutschland, emigrierte nach Großbritannien und wurde ein international anerkannter Wirtschaftswissenschaftler. Früher als viele andere wies er im Land der Industriellen Revolution auf die Grenzen von Wachstum und Fortschritt hin. Schumacher mahnte, umzusteigen auf sanfte Technologien, die Mensch und Natur nicht länger ausbeuten. Er predigte keineswegs das Ende der Industriegesellschaft, wohl aber eine neue Moral: "Small is beautiful."

 

Barbara Beuys; in: MERIAN: Englands Mitte und Norden, Seite 115 f.