Neuengland: Jenseits von Amerika
Die verfeinerten Staaten
New England, das sind sechs kleine Bundesstaaten im äußersten Nordosten der USA. Die Bewohner wenden dem Rest der nordamerikanischen Welt mit vornehmer Zurückhaltung den Rücken zu. Denn Ihre Heimat ist der Ursprung der USA. Hier siedelten die Pilgerväter und schufen Ihr neues England. Dessen Werte und Traditionen gelten hier oben noch immer sehr viel.
Florida ist anders als Texas. Texas anders als Kalifornien, und wer aus Nashville/Tennessee nach Detroit/Michigan wechselt, muss sich ein wenig umgewöhnen. Mit Betonung auf wenig: Was das amerikanische Leben ausmacht, ist fast überall gleich - eine Grundmelodie, die sich nirgends entscheidend ändert.
Nur in sechs kleinen Bundesstaaten, die sich im äußersten Nordosten zwischen Kanada und Atlantik zusammendrängen, spielt eine ganz andere Musik als im weiten Rest des Landes. Connecticut, Maine, Massachusetts, New Hampshire, Rhode Island und Vermont bewahren gegen das laute, dynamische, großspurige Amerika unerschütterlich ihre Vorstellungen vom eigenen way of life.
Colleges im Park
In Neuengland sagt man »Good Morning« und »Good Afternoon« statt »Hi« und »Howdi«. Niemand protzt mit dem Größten, Höchsten und Modernsten. Keiner schlägt einem beim Reden mit der Pranke auf den Rücken und will nach fünf Minuten wissen, wie viel man verdient und ob man letztens in Heidelberg oder Neuschwanstein war.
Stattdessen lernt man Menschen kennen, die aus dem Stand den Unterschied zwischen Austria und Australia kennen und manchmal sogar den zwischen Heineken und Heine. Es sind Menschen, die europäische Impressionisten lieben und ihre Ferien nicht in Disneyland, sondern in Irland oder der Toskana verbringen. Etliche Neuengländer treffen sich nachmittags tatsächlich zur Teatime mit Scones und Shortbread, und alle halten Paris für das Zentrum der zivilisierten Welt.
Wo alles anfing
Dem großen Rest der USA drehen sie in feiner Überheblichkeit den Rücken zu. Schließlich hat an ihrer Küste alles angefangen, als 1620 die »Mayflower« mit den ersten Siedlern aus England anlegte. Nach 88-tägiger Überfahrt betraten die »Pilgrim Fathers« im heutigen Plymouth ihr gelobtes Land - das »Neue England«. Der Geist und die Nachfahren dieser gottesfürchtigen Fundamentalisten, die aus Glaubensgründen eine neue Heimat suchten, haben Neuengland geprägt und bestimmen bis heute seinen Kurs.
Efeuumrankte Lehrstätten
Wer sein Studium an einer deutschen Uni absaß, in den überfüllten Hörsälen von Frankfurt beispielsweise, eingekeilt zwischen Schnellstraße und Tiefgarage und mit einem Betongrab namens KoZ als einzigem Treffpunkt, der bricht zusammen, wenn er den ersten College-Campus in Neuengland betritt. All die efeuumrankten Lehrstätten, die mit holzgetäfelten Mensen und weiten Parks eher wie Landsitze wirken, gehen auf den asketischen Puritanismus der ersten Siedler zurück.
Schmiede der Nobelpreisträger
Mit Gut und Geld durfte (und darf bis heute) keiner prahlen, bleibt als Elite-Ausweis nur die Bildung. 1636 wurde Harvard als Priesterseminar gegründet, Yale und andere folgten, die Namen ihrer Absolventen sind bekannt: Roosevelt, Bush, Clinton, Kennedy, Kissinger, dazu Literaten wie Robert Frost oder Nathaniel Hawthorne und Tycoons wie Bill Gates und Ted Turner. Allein aus Harvard kamen mehr als dreißig Nobelpreisträger.
Himmel, Sand und Meer
Bei der Fahrt durch die lieblichen Hügel der Berkshires oder Litchfield Hills gehen Besuchern die Augen über, weil die ganze Welt aussieht wie ein tipptopp gepflegtes Open-Air-Museum.
Auch das ein Erbe der Pilgerväter. Nach ihrer Devise ist harte Arbeit die größte Tugend, und als wichtigste Pflicht gilt es, das Alte zu bewahren. Deshalb hocken Städtchen wie Concord, Stockbridge, Litchfield oder Lenox als perfekte historische Zitate im pastoralen Grün, englische Siedlungen aus der Zeit vor der industriellen Revolution, mit blendend weißen, hölzernen Kirchen und manikürten Rasenflächen.
Landstraßen ohne Werbetafeln
Das Laute, Schrille, Billige straft der wahre Neuengländer mit Verachtung. Keine grellen Werbeflächen am Fahrbahnrand versperren den freien Blick auf Wälder und Seen, statt Fast-Food-Baracken warten kernige Hummer-Kneipen mit Picknicktischen am Meer.
Country Inns statt Motels
Luxuriös und gar nicht asketisch sind die Himmelbetten der Landhotels. Groß wie Treibeisinseln und geschmückt wie Hochaltäre der Nachtruhe, beherrschen sie mit gedrechselten Pfosten und tausend Spitzendecken die Zimmer der noblen »Country Inns«, und jeder neue Morgen wird zur Vertreibung aus dem Paradies - nach dem Frühstück, das man auf der weinlaubüberrankten Terrasse serviert bekommt.
Villen im XXL-Format
Seefahrer und Walfänger haben diese Villen einst gebaut, die heutigen Besitzer genießen ihre Rolle als engagierte Gastgeber und geben Tipps für Konzerte, Museen, Restaurants und Strände. Die sind atemberaubend, zahllos, und haben fast immer XXL-Format: Himmel, Sand und Meer, so weit das Auge reicht; und nirgendwo geballte Menschenmassen. Die Neuengländer sind Individualisten.
Jenseits von Amerika
Kulinarische Quintessenz eines Neuengland-Sommers ist ein Vergnügen, zu der die Pilgerväter angeregt wurden, als sie die Indianer feiern sahen: das Clambake am Strand mit Lagerfeuer, Hummer, Krebsfleisch, Muscheln, Mais und einem kühlen Chardonnay. Wer mit Neuengländern ins Gespräch kommt, in der Buchhandlung oder im Museum, wird vielleicht dazu eingeladen. Sie reden gern über Europa, werden dem Europäer nicht ohne leisen Stolz zu verstehen geben, dass er sich bei ihnen wie daheim fühlen kann. Und werden ihn bedauern, wenn er ankündigt: »Morgen muss ich nach New York.« Über die Grenze. Aus dem alten, kultivierten Amerika in die ganz gewöhnlichen USA.
GEO
SAISON 7 - 8/2002