„Non scholae, sed vitae discimus", sagt der Lateiner. Und wer das in "Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir" übersetzen kann, galt früher als klassisch gebildet. Heute kann keiner mehr so genau sagen, was Bildung beinhalten soll. Das führt dazu, dass sie mit Wissen gleichgesetzt wird, wie es in Quiz-Shows abgefragt wird. Außerdem erliegen immer mehr Menschen dem irrigen Glauben, man könne sich per Mausklick bilden und müsse eigentlich nur noch die Bedienung des Computers beherrschen.

 

Das führt zu der Frage, was unsere Kinder in der Schule eigentlich vermittelt bekommen. Bildung und ihre Voraussetzung, das Wissen? Oder nur die Fertigkeit, sich Wissen dann anzueignen, wenn man es benötigt - beispielsweise vor einer Prüfung?

 

Eine Antwort liefert die Neurobiologie mit der Erforschung unserer 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn und ihrer Vernetzung. Treten zwei Ereignisse gleichzeitig auf, oder assoziieren wir einen Begriff mit einem anderen, so werden die Kontaktstellen (Synapsen) zwischen den Nervenzellen verstärkt. Stellt man sich die Zellen als ein Fußballfeld aus Glühbirnen vor, kann man sich ausmalen, wie durch deren synchrones Aufleuchten ein ganz bestimmtes raum-zeitliches Aktivitätsmuster entsteht. Dieses ist geeignet, Informationen - oder eben Wissen - abzuspeichern.

 

Eine der wichtigen Aufgaben unserer neuronalen Netze besteht darin, bisher unbekanntes Wissen in bestehende Netzwerke einzubauen. Wer schon viel weiß, kann leicht neues mit altem, bereits vorhandenem Wissen auf vielfältige Art verknüpfen. Wer umgekehrt wenig weiß und Neues lernen will oder soll, muss jedesmal wieder ganze Netzwerke zusammenschalten, anstatt nur neue Verbindungen herzustellen. Deshalb reichen auch ein hoher Intelligenzquotient und schnelle Auffassungsgabe nicht unbedingt aus, um in Schule und Beruf erfolgreich zu sein. Gutes Vorwissen zahlt sich dagegen immer aus, wie viele aktuelle Studien gezeigt haben.

 

Dies bedeutet natürlich nicht, dass allein eine Überflutung mit Lernspielen aus unseren Kindern gebildete Menschen macht. Aber Allgemeinwissen trägt dazu bei, dass sie es werden. Es genügt nicht, nur zu wissen, wo man etwas nachschlagen kann, weil das Gehirn in diesem Fall immer vor den schwierigen Fragen steht, wo und wie es die eben erworbenen Informationen einordnen soll. Wenig und unkoordiniert verknüpfte Nervenzellen können diese Fragen nicht beantworten.

 

Echte Bildung ist also die Fähigkeit, abstraktes und neues Wissen intelligent in ein bestehendes System einordnen und es effektiv abrufen zu können. Erst das Wissen über geschichtliche Zusammenhänge, das Wissen darum, woher unser Wissen kommt, erlaubt, ebenso wie naturwissenschaftliches und mathematisches Verständnis und der Umgang mit Sprache, den schnellstmöglichen Zugriff auf die Unzahl gespeicherter Daten in neuronalen Netzen.

 

In Zeiten, in denen riesige Informationsmengen mit einem Mausklick zur Verfügung stehen, brauchen wir Bildung zur Bewertung unseres Wissens, damit wir Wesentliches von Unwesentlichem trennen können. Diese Einordnungshilfe ist auch deshalb nötig, weil ein Zuviel an Detailkenntnis oft Verunsicherung auslöst.

 

Bildung kann deshalb nur dort entstehen, wo man dem Wissen Wert beimisst. Wir merken uns immer das, was vom Gehirn in einem meist von unserer Kultur vorgegebenen Zusammenhang als wichtig erachtet wird. In der aktuellen Bildungsdiskussion wird der Debatte über die Wissensziele bedauerlicherweise keine große Bedeutung beigemessen. Aber das sollte Eltern nicht abhalten, diese Debatte mit ihren Kindern zu führen. Dabei muss man sich zunächst selbst klar darüber werden, was wichtige vermittelbare Werte sind, denn nur daran kann sich das kindliche Gehirn orientieren.

 

Fazit: Vielleicht ist es eine gute Idee für Eltern, auf einer Liste zu notieren, was das eigene Kind bis zum 15. Lebensjahr erlebt und erfahren haben sollte. Das Ziel dabei ist nicht das sklavische Abarbeiten der einzelnen Punkte. Die Liste stellt einen Wert an sich dar: den ersten Schritt zur Bildung. Quasi als Antwort auf die Frage, was eine solche Bildung leisten soll, könnte diese Aussage des Dichters Rainer Maria Rilke gelten: "Dass sie mir Fenster sei in den erweiterten Weltraum des Daseins.“

 

Martin Korte: Ist nur der gebildet, der viel weiß? Warum Bildung ohne Wissen nicht funktioniert und Wissen ohne Bildung nichts wert ist. FOCUS Schule 3/2006, Seite 128 f.