Wolfgang Klafki: Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips in der Erziehung

 

I. Das Problem

 

Wie in der generellen gesellschaftspolitischen und der gesellschaftswissenschaftlichen Erörterung, so ist auch in der öffentlich-pädagogischen und der erziehungswissenschaftlichen Diskussion das sogenannte Leistungsprinzip seit einigen Jahren die Zielscheibe scharfer Kritik und das Thema lebhafter Kontroversen geworden.

 

II. Zur Geschichte des Leistungsprinzips in der Schule

 

Der enge Zusammenhang des Leistungsproblems in der Schule mit gesellschaftlichen Prozessen ist nicht erst durch die vorher erwähnte, politisch-ökonomisch ansetzende Kritik am Leistungsprinzip ins Licht gerückt worden; vielmehr ging bereits Carl-Ludwig Furck 1961 in seiner Habililtationsschrift über "Das pädagogische Problem der Leistung in der Schule" in einer gründlichen historischen Analyse jenem Zusammenhang zwischen Gesellschaftsgeschichte und schulischem Leistungsprinzip nach, und für einen wichtigen Teilaspekt des Leistungsproblems, die Geschichte des Schulzeugnisses, hat Walter Dohse Furcks Ergebnisse aufschlussreich ergänzt. Wir nehmen im Folgenden einige der wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung Furcks in unsere Argumentation auf; denn die Form, in der sich uns heute die Leistungsproblematik in der Schule stellt, ist wesentlich mitbestimmt durch die Geschichte dieses Problems.

 

Diese noch in unserer Gegenwart wirksame Geschichte beginnt im Wesentlichen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert: Das Problem der Leistung wird im Zuge des 19. Jahrhunderts ein Grundproblem der Schule als einer öffentlichen, staatlichen Institution.

 

III. Orientierung an der "modernen Leistungsgesellschaft" als Begründung des pädagogischen Leistungprinzips?

 

Was meint der Begriff "Leistungsgesellschaft"? Zwar gibt es keine ausdrückliche Übereinkunft über den Sinn dieses Wortes, auf die man sich hier direkt beziehen könnte. Ich meine jedoch, dass sich aus den Zusammenhängen heraus, in denen das Wort "Leistungsgesellschaft" verwendet wird, folgendes entnehmen lässt:

 

Die Rede von der "Leistungsgesellschaft" vereinigt drei Bedeutungsmomente in sich.

 

Erstens: Das Einkommen, das jemand in dieser Gesellschaft erhält, und die berufliche und soziale Position, die jemand einnimmt, sie hängen, so scheint es im Sinne der Rede von der "Leistungsgesellschaft", von der individuellen Leistung ab, die der Betreffende innerhalb dieser Gesellschaft und für sie erbringt. In dieser Auffassung sind nun gewöhnlich zwei Voraussetzungen verborgen, und sie machen das zweite und dritte Bedeutungsmoment des Wortes "Leistungsgesellschaft" aus.

 

Zweitens: Wer die Bezeichnung "Leistungsgesellschaft" als eine angemessene, ja vielleicht als die treffendste Kennzeichnung unserer Gesellschaft ansieht, der unterstellt, dass es von der Mehrzahl der Mitglieder dieser Gesellschaft anerkannte, mindestens aber wohlbegründete und gerechtfertigte sowie im wesentlichen eindeutige Maßstäbe gäbe, an denen in der Wirklichkeit die Leistungen des einzelnen gemessen und dementsprechend dann Einkommen und soziale Positionen zugeteilt werden. Die Rede von der Leistungsgesellschaft schließt also die Vorstellung ein, dass die Verteilung von Einkommen, Besitz, sozialen Positionen, wirtschaftlich-politischen Einflussmöglichkeiten in unserer Gesellschaft im wesentlichen "leistungsgerecht" erfolge.

 

Drittens: Eine weitere Voraussetzung aber besagt folgendes: Von Ausnahmen abgesehen - etwa bei schweren körperlichen oder geistigen Schäden eines Menschen -, habe jeder in dieser Gesellschaft prinzipiell die gleiche Chance, die Leistungen, die zu erbringen, und die sozialen Positionen, die einzunehmen er befähigt und gewillt ist, auch tatsächlich vorzuweisen bzw. zu erreichen. Die Rede von der Leistungsgesellschaft meint in diesem Sinne also, dass in dieser Gesellschaft im wesentlichen soziale Chancengleichheit gelte.

 

Wir prüfen nun die Gültigkeit dieser Bedeutungsmomente des Begriffes "Leistungsgesellschaft" und können dabei zunächst die beiden ersten Momente, nämlich die Vorstellung von der individuell leistungsgerechten Zumessbarkeit von Einkommen und sozialer Position und die damit verbundene Vorstellung einer mindestens hinreichenden Eindeutigkeit und Konstanz des Bewertungsmaßstabes für solche individuellen Leistungen zusammenfassen.

 

Claus Offe hat dieses Problem zum Gegenstand einer aspektreichen soziologisch-politologischen Studie mit dem Titel "Leistungsprinzip und industrielle Arbeit" gemacht, und diese Untersuchung ist von Kritikern des pädagogischen Leistungsprinzips als eine wesentliche Quelle ihrer Argumentation herangezogen worden. Offe kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass das Leistungsprinzip im Sinne der Einschätzung der Leistung des Einzelnen im Bereich der industriellen Arbeit als Norm und Urteilskriterium und damit als Maßstab der Zuweisung von Lohn bzw. Verdienst oder Profit und sozialer Position in zunehmendem Maße "sinnlos" - ich möchte vorsichtiger formulieren: fragwürdig - werde oder besser: dass es schon längst nicht mehr und in zunehmendem Maße weniger als das fungiert, was es zu sein scheint und was es, im Sinne seiner Verfechter, angeblich ist: nämlich ein eindeutiger Maßstab. Nach Offe sind es vor allem zwei ökonomische und politisch-gesellschaftliche Entwicklungstrends, die unausweichlich dieses Problematisch-Werden des Leistungsprinzips bewirken:

 

Erstens: Die individuelle "Leistung" als scheinbar eindeutiger Beurteilungsmaßstab werde deshalb fragwürdig, weil die staatliche Sozial- und Wirtschaftspolitik heute - als unverlierbares Ergebnis der sozialen Kämpfe seit dem 19. Jahrhundert - mindestens in allen entwickelten Industriegesellschaften, und zwar auch in den kapitalistischen Gesellschaften, ökonomische und politische Krisen dadurch zu vermeiden versuchen muss, dass sie durch verschiedene Maßnahmen - Preisstützungen, Zollbestimmungen, Aufkauf und staatlich durchgeführte oder verfügte Vorratslagerung, Kreditleistungen und Ähnliches, zusammengefasst also: durch eine Reihe von Subventionierungsmaßnahmen - der großen Mehrzahl der arbeitenden Bevölkerung eine Art Mindesteinkommen auch dann sichert, wenn die betreffende Arbeitsleistung an den Maßstäben des Marktwerts gemessen unproduktiv geworden ist; man denke hier etwa an Teile der westdeutschen Landwirtschaft oder an Zeiten der Kohlenabsatzkrise, aber ebenso an die zeitweilige Stützung von großen Einzelfirmen oder Konzernen, in denen eine so erhebliche Zahl von Beschäftigten tätig ist, dass der Konkurs solcher Firmen oder Konzerne regionale Arbeitslosigkeit und damit soziale Krisen auslösen könnte, Maßnahmen, die auch dann vorgenommen werden, wenn solche Krisen etwa auf Mängeln "unternehmerischer Leistung" beruhen.

 

Der zweite Grund, demzufolge individuelle Leistung als scheinbar eindeutige Maßskala für die Lohn- und Positionszuweisung zunehmend fragwürdiger werde, ist folgender: Die Entwicklung der Technik, die Differenzierung und Komplizierung der Arbeitsorganisation, die in verschiedenen Teilbereichen der industriellen Produktion - aber auch, wie ich ergänzen möchte, des Verwaltungswesens und kaufmännischer Tätigkeiten - unterschiedlich weit gediehene Ersetzung menschlicher Leistungen durch Steuerungs- und Regelungsautomaten und durch Datenverarbeitungsmaschinen führt dazu, dass jede einzelne menschliche Arbeitstätigkeit von einer mehr oder minder großen Zahl an Arbeitstätigkeiten anderer Personen und vom Funktionieren oder Nichtfunktionieren eines komplizierten technischen und organisatorischen Systems abhängig ist. Damit nehmen die Möglichkeiten des Einzelnen, etwa auf das Produktions- und Verkaufsergebnis oder auf die Abwicklung eines Verwaltungsvorganges Einfluss zu nehmen, ab; der Beitrag des Einzelnen wird bei solchen komplexen, arbeitsteilig organisierten Arbeitsvollzügen also immer schwerer bestimmbar.

 

Offe zeigt nun aber, dass das sogenannte Leistungsprinzip im Zuge dieses Prozesses nicht etwa schrittweise wirkungslos oder ausdrücklich aufgegeben wird, sondern das es einen Bedeutungswandel erfährt und in diesem neuen, freilich meist unerkannten oder verschleierten Sinne ein entscheidender Stabilisierungsfaktor bestehender wirtschaftlicher Verhältnisse, nicht zuletzt ein Mittel zur Sicherung innerbetrieblicher Hierarchien wird. Als "Leistung" wird dem Arbeitenden nun weniger ein jeweils unterschiedlicher, individuell zumessbarer Beitrag zur Produktion abgefordert und honoriert als vielmehr ein bestimmtes Wohlverhalten und die praktische Anerkennung des Betriebszwecks: hohe, gut funktionierende Produktion, Wahrung des sogenannten Arbeitsfriedens und Anerkennung und Stützung der Leitungsstruktur eines Betriebes. Die Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb von Betrieben werden dann in zunehmend stärkerem Maße an solchen "Leistungen" für die Wahrung der betrieblichen Hierarchien gemessen.

 

Mögen Offes Ergebnisse zum Teil mehr beobachtbare Entwicklungstrends als bereits generelle Realitäten bezeichnen, sie stellen das herkömmliche Verständnis der Rede von unserer Gesellschaft als einer Leistungsgesellschaft durchaus in Frage, und zwar meines Erachtens generell, weil sich Offes Argumentationen durch analoge Beispiele aus vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Systems stützen ließen, etwa durch Beispiele aus dem Bereich der Lehr- und Erziehungsberufe und der wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrtätigkeit, aus dem Bereich des Rechtswesens und des Gesundheitswesens, in der Unternehmertätigkeit wie in der Politik als Beruf usf. Damit wird aber auch die Meinung problematisch, man könne das Leistungsprinzip in der Erziehung bzw. in der Schule heute dadurch begründen, dass Erziehung den jungen Menschen eben auf eine Bewährung in der sogenannten Leistungsgesellschaft in dem oben entwickelten Sinne vorbereiten müsse.

 

Ich komme - in einer Zwischenzusammenfassung - zu dem Ergebnis, dass das vorwaltende Verständnis der Rede von der Leistungsgesellschaft nicht geeignet ist, ein pädagogisch verantwortbares Leistungsprinzip zu begründen.

 

IV. Zur Neukonzeption des Leistungsprinzips in einer demokratischen Schule

 

Dieses Fazit mag uns sozusagen als Absprungbasis für einen positiven Ansatz dienen. Die Zentralthese lautet: Sofern es ein erziehungswissenschaftlich begründbares Verständnis des Leistungsbegriffes gibt, kann es nur in Orientierung an legitimierbaren Zielen der Erziehung und der Schule in einer sich als demokratisch verstehenden Gesellschaft gewonnen werden.

 

Nun kann ich hier natürlich keinen ausführlichen Versuch einer Herleitung und Begründung von Zielen für die heutige Schule vorlegen. Das würde erstens eine historisch-kritische Untersuchung mindestens der jüngeren Geschichte des Nachdenkens über die Zielfrage in Erziehung und Schule im Zusammenhang mit politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Prozessen erfordern und zweitens eine Untersuchung der im Erziehungs- und Bildungswesen tatsächlich wirksam gewordenen Zielsetzungen. Hier muss ein sehr abkürzender Weg eingeschlagen werden.

 

Wir knüpfen an eine Reihe von Zielbestimmungen an, die in entsprechenden Untersuchungen und Programmen heute immer wieder auftreten und die - mögen sie oft auch gefährlich leerformel- und floskelhaft verwendet werden - im Prinzip sehr wohl in einer ausführlichen historisch-kritischen Untersuchung begründbar wären. So stoßen wir immer wieder auf den Begriff der Mündigkeit, zu der jungen Menschen durch Erziehung verholfen werden solle, ebenso häufig auf den Begriff der Emanzipation, der als solcher zwar nur eine Befreiung von etwas bezeichnet, jedoch noch nichts über die inhaltlich-positive Zielsetzung solcher Befreiung aussagt, in dem aber fast immer solche positiven Zielbestimmungen mitgedacht werden: Fähigkeit zur Selbst- und Mitbestimmung, Kritik- und Urteilsfähigkeit, Entwicklung der Fähigkeit des jungen Menschen, gesellschaftliche und individuelle Hindernisse der Verwirklichung von Selbst- und Mitbestimmung, Kritik- und Urteilsfähigkeit für sich selbst und für andere analysieren zu können, Anbahnung individueller und gesellschaftlich-politischer Handlungsfähigkeit, um solche Hindernisse durch Veränderung der Verhältnisse abbauen zu helfen, usf. Da solches Handeln und Verändern aber mit Aussicht auf Erfolg meist nicht vom je Einzelnen in Gang gesetzt oder durchgehalten werden kann, da es überdies nie nur um die Durchsetzung eigener Möglichkeiten und Ansprüche, sondern immer zugleich um die entsprechenden Möglichkeiten und Ansprüche der in ähnlicher Lage Befindlichen geht, müssen Kritikfähigkeit, Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit, Anbahnung von Handlungsfähigkeit, sollen sie nicht individualistisch verkürzt werden, mit der Fähigkeit zum Handeln in Gruppen, zur Solidarität verbunden werden. 

 

V. Leistungsmotivation und klassen- bzw. schichtspezifische Sozialisation

 

Um die im letzten Abschnitt entwickelten Leitgesichtspunkte zur Neubestimmung des Leistungsverständnisses in einer zukünftigen Schule weiter zu konkretisieren, ist es notwendig, sie auf Erkenntnisse der Motivationspsychologie und der Sozialisationsforschung zu beziehen. Dies kann hier jedoch nur noch in sehr knapper Form angedeutet werden.

 

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die These, dass der Kern einer Neufassung des pädagogischen Leistungsprinzips eine neue Konzeption der Erziehung zur Leistungsmotivation oder Leistungsbereitschaft in der Schule sein müsste. So wenig hier einer Geringschätzung bestimmter Erkenntnisse, Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten - zusammengefasst: einzelner Leistungen - das Wort geredet werden soll, das Zentralproblem liegt doch in der pädagogischen Hilfe zur Entwicklung einer Grundeinstellung zur Leistung. Wir können dafür, wie es vorwegnehmend schon an früherer Stelle geschah, den in der Motivationspsychologie gebräuchlichen Terminus "Leistungsmotivation" übernehmen, freilich nur im Sinne einer kritischen Begriffsbestimmung, die über die bisherigen psychologischen Definitionen hinausgeht.

 

Unter Leistungsmotivation versteht die einschlägige psychologische Forschung, die für die USA vor allem durch David McClelland, für die Bundesrepublik insbesondere durch Heinz Heckhausen repräsentiert sein mag, das Bestreben, die eigene Tüchtigkeit in allen jenen Tätigkeiten zu steigern oder möglichst hoch zu halten, in denen man einen Gütemaßstab für verbindlich hält und deren Ausführung deshalb gelingen oder misslingen kann. Leistungsmotivation in diesem Sinne ist also eine sogenannte intrinsische, d.h. innengesteuerte Motivation. Wo sie entwickelt ist, wird sie ohne äußere Belohnungen oder Strafandrohungen, ohne die Anwesenheit anordnender oder auf irgendeine andere Art anspornender Autoritätspersonen wirksam. Das bedeutet nicht, dass sie auch ohne externe Einflüsse entstünde. Es kann völlig offen bleiben, ob es so etwas wie individuell-spontane Leistungsmotivation gibt; in der Regel entwickelt sich auch intrinsische Leistungsmotivation unter dem Einfluss von bestimmten Sozialisations- und Erziehungsbedingungen, ist also eine verinnerlichte Motivation.

 

Nun ist die oben zitierte Definition hochgradig formal. Sie enthält keinen Hinweis darauf, dass ein solches Streben, die eigene Tüchtigkeit zu steigern oder möglichst hoch zu halten, immer in bestimmten historisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen entsteht und wirksam wird und dass die Gütemaßstäbe, an denen man die eigene Tüchtigkeit misst oder beurteilt, ebenfalls historisch-gesellschaftlich vermittelt sind.

 

Die Konsequenzen, die die Schule aus den Befunden der Sozialisationsforschung ziehen muss, liegen auf der Hand: 

 

Schule muss sich auf den Tatbestand einstellen, dass Kinder gemäß ihrer sozialen Herkunft meistens mit sehr unterschiedlich entwickelter Leistungsmotivation in die Schule eintreten und dass sie auch während der weiteren Schulzeit hinsichtlich der Entwicklung ihrer Leistungsmotivation unterschiedlichen familiären und sozio-kulturellen Einflüssen unterliegen. Die Schule muss also das vielfach zu erwartende Defizit an problemorientierter Leistungsmotivation, an Ermutigung zur Selbständigkeit, an Planungsfähigkeit, an bestätigender, ermutigender Rückmeldung, an entwickeltem persönlichem Anspruchsniveau, an Hoffnung auf Erfolg, an freudigen Erfahrungen des Könnens und Gelingens insbesondere bei Unterschichtkindern auszugleichen versuchen - jedoch so, dass sie dabei zunächst an die Lebens- und Erfahrungssituation der Unterschichtkinder anknüpft; sie wird so selten wie möglich alle Kinder von vornherein am gleichen Leistungsmaßstab messen, da gerade diese scheinbare Gleichbehandlung die Verschärfung der Ungleichheit bedeuten würde. Sollte sich andererseits erweisen, dass die gewöhnlich ausgeprägtere Leistungsmotivation der Mittel- und Oberschichtkinder durch das individualistische Konkurrenzmotiv mitbestimmt ist, so wird sie diesen Tatbestand angesichts der früher begründeten Zielsetzungen ebenfalls als ein Defizit betrachten und gezielt eine Änderung in Richtung auf eine problem- und kooperationsorientierte Leistungsmotivation anstreben.

 

VI. Schluss

 

Ich habe versucht, aus der Sicht einer Erziehungswissenschaft, die sich als kritisch-konstruktive Theorie versteht, Probleme und Perspektiven eines neuen Verständnisses des Leistungsprinzips in Erziehung und Schule zu entwickeln und an einigen Stellen die konkreten Konsequenzen für die Schulpraxis zu skizzieren. Auch und gerade eine solche Neukonzeption des Begriffs der Leistung und der Leistungsbeurteilung für eine demokratische Schule darf jedoch nicht in Vergessenheit geraten lassen, dass das Leistungsprinzip nicht den ganzen Sinn der in der Schule zu ermöglichenden Bildung zu umschreiben und zu begründen vermag. Der Sinn der Leistung kann nie vollständig in ihr selbst liegen. Leistung muss als ein dialektischer Begriff verstanden und praktiziert werden. Leistung erfährt ihren Sinn von ihren dialektischen Gegenpolen her - von ihrem Beitrag zur Erhöhung der Qualität des Lebens, von der Erfahrung des Glücks, der Freude des Könnens, der erfüllten Gegenwart und vom Spiel her. Solche Erfahrung dialektischer Gegenpole des Leistens kann sich bisweilen schon im Vollzug der Leistung selbst einstellen - etwa im Sport oder auch in der konzentrierten, einsamen oder gemeinsamen Arbeit an einer Problemlösung, z.B. in der Tätigkeit von Wissenschaftlern oder auch in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Häufiger wird solche Erfahrung erst jenseits des Leistungsvollzuges zugänglich werden. Jedenfalls folgt aus dieser Dialektik des Leistungsbegriffes, dass auch die Schule jungen Menschen immer wieder diese Erfahrung vom Sinn der Leistungsansprüche ermöglichen müsste - Erfahrungen des persönlichen oder des in Kooperation mit anderen gelingenden Könnens, die Erfahrungen des gelösten Gesprächs, des gemeinsamen Lachens, der Muße - scholé, die der Schule einst ihren Namen gab - , der erfüllten Gegenwart, des Spiels. Schillers Gedanke, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spiele, ist nach wie vor auch pädagogisch von höchster Aktualität, und er signalisiert exemplarisch Sinn und Grenze des Leistungsprinzips in Erziehung und Schule.

 

Wolfgang Klafki: Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips in der Erziehung. Aus: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik; Beltz Verlag, Weinheim, 1985 (5. Auflage 1996), Seite 209 ff.