"Die jungen Leute verloren"

 

Der Pädagoge Hartmut von Hentig über sein Leben in Schlössern und Schulen, die Disziplindebatte und die Auseinandersetzung seiner Generation mit der NS-Vergangenheit

 

Hartmut von Hentig ist einer der bekanntesten Erziehungswissenschaftler Deutschlands. 1974 gründete er zwei vielbeachtete Reformschulen an der Universität Bielefeld, die Laborschule und das Oberstufen-Kolleg, in denen er seine Idee von der Stärkung des Individuums verwirklichen wollte. Der Diplomatensohn Hentig, 81, der jetzt in Berlin lebt, veröffentlichte eine Vielzahl von Büchern und legt nun den zweiten Band seiner Memoiren vor: "Mein Leben - bedacht und bejaht"

 

    SPIEGEL: Herr von Hentig, Sie sind der berühmteste Pädagoge Deutschlands, eine Galionsfigur der sozialdemokratischen Bildungsreform. Nach der Lektüre Ihrer Memoiren "Mein Leben - bedacht und bejaht" sind wir sicher, dass Sie in Wahrheit ein strammer Konservativer sind. Zu Recht?

 

    Hentig: Ja, schon meiner Herkunft nach. Aber wieso "stramm"? In meinen Memoiren sehen Sie, wie sehr ich von meinem Vater geprägt wurde ...

 

    SPIEGEL: ... dem Karrierediplomaten Werner Otto von Hentig.

 

    Hentig: Der war aber ein so unkonventioneller Mensch, dass es mir nie etwas ausgemacht hat, aus der gegebenen Ordnung auszubrechen, wenn sie mir falsch erschien. Man kann frei gegenüber den Traditionen sein und sie doch ehren, ihre Bedeutung, ihre Richtigkeit, ihre Funktion verstehen. Sie wissen ja auch, dass ich Latein und Griechisch unterrichtet habe. Konservativere Schulfächer gibt es nicht. Und doch war mein Unterricht wohl eher ungewöhnlich.

 

    SPIEGEL: Spielerisch. Wozu brauchen Schüler in einer globalisierten Zeit, in der sie vielleicht besser Mandarin lernen sollten, alte Sprachen?

 

    Hentig: Nützlich ist das Latein schon seit 300 Jahren nicht mehr, wohl aber die mit dem Erlernen dieser Sprache verbundene Anstrengung. Latein schult die Aufmerksamkeit, das Nachfragen: Wie kommt der Sinn eines Satzes zustande? Wo lernen die jungen Menschen unserer flüchtigen Zeit, ihre Gedanken und Gefühle mit Hilfe von Sprache und großen Bildern zu ordnen? Kontrolle über die eigene Sprache - das ist doch ein Geschenk!

 

    SPIEGEL: Das offenbar niemand mehr annehmen möchte. Die Sprache der Jugendlichen wird immer krasser und kürzer, "cool" und "geil".

 

    Hentig: Kürze ist kein Makel. Schlimm ist es, wenn die Sprache verarmt. Derb und direkt konnte sie immer schon sein. Mit sieben bin ich in der Mark Brandenburg zur Schule gegangen. Meine Mitschüler haben alles fabelhaft direkt benannt. Zwei Jahre später kam ich nach Bogota, wohin mein Vater als deutscher Gesandter versetzt worden war. Ich habe dort den anderen Kindern an der Deutschen Schule ganz arglos erzählt, ich hätte gesehen, wie der Eber die Sau gefickt habe. Was ist das - ficken?, wollten die anderen Kinder natürlich wissen. Du meine Güte, bin ich da in Verlegenheit geraten! Heute steht das Wort im Titel von Theaterstücken, die auf dem Kurfürstendamm gespielt werden. Was mir unter anderem auffällt, wenn ich die jungen Leute im Bus quasseln höre, sind die Stereotypen: "toll" und "super" und "scheiß" und "kannste vergessen" - in stundenlanger Wiederholung. Sie wollen etwas ausdrücken und können es nicht. Das tut mir Leid.

 

    SPIEGEL: Was soll die Schule dagegen tun?

 

    Hentig: Der Lehrer muss selber eine gute Sprache sprechen und die Schüler auf ihre eigene Sprache aufmerksam machen: "Meinst du das wirklich?" Und: "Versuch es mal genauer zu sagen!" In jedem Unterricht! An der Bielefelder Laborschule habe ich hartnäckig verlangt: Deutschunterricht sei immer. Sprache werde in jedem Augenblick geübt, selbst im Sport. Aber die meisten Lehrer sind froh, wenn die Schüler ihre Hüpfer richtig machen. Alles andere ist ihnen egal.

 

    SPIEGEL: Sie setzen voraus, dass Lehrer ein pädagogisches Feuer in sich haben müssen. Ist das nicht zu viel verlangt?

 

    Hentig: Das ist ein sehr starkes Bild, ein Feuer. Aber ich finde schon, dass ein Lehrer ohne Leidenschaft für seine Sache - also der Routinier - ein Unglück ist. Ich verlange nicht, dass alle 700.000 Lehrer Deutschlands Pestalozzis sind. Aber dass nach all den pädagogischen und didaktischen Anstrengungen des 20. Jahrhunderts bei uns an den Schulen immer noch so viel Langeweile herrscht, ist ein Skandal.

 

    SPIEGEL: Was lässt Lehrer so früh so zynisch und müde werden?

 

    Hentig: In unserem System herrscht eine mechanische, quantitative Vorstellung von Bildung: Stundenzahlen, Stoffmengen, Bewertung in Form von Ziffern. In der Unter- und Mittelstufe hat die in unserer Welt auch sonst waltende Arbeitsteiligkeit alles lebendige Lernen und Lehren in isolierte Einheiten verwandelt. Jeder Lehrer ist ein Spezialist für etwas eng Begrenztes. In Fritz Koch-Gothas "Häschenschule" …

 

    SPIEGEL: Wollen Sie etwa zu der zurück? Ein Lehrer unterrichtet mehrere Jahrgänge gleichzeitig?

 

    Hentig: Der Häschenschullehrer macht in der Tat alles. Er geigt, botanisiert, zeigt, wie man Eier anmalt, und warnt vor dem Fuchs. Dabei muss er gar nicht alles perfekt machen. Es ist sogar wichtig, dass die Schüler die Mühe sehen, die eine Sache kostet. Unsere Schulen sollten mehr wie die Landerziehungsheime sein, wo das Lehrreichste neben dem Unterricht passiert. Das habe ich als Junglehrer im Internat Birklehof im Schwarzwald gelernt. Wenn ich da gemeinsam mit Schülern den Schulgarten in Ordnung brachte, wenn wir an langen Winterabenden das Weihnachtsfest vorbereiteten, wenn wir gewandert sind, haben die Schüler zu leben gelernt - wie Probleme entstehen und wie man sie vernünftig und schiedlich löst.

 

    SPIEGEL: Landerziehungsheime und Internate - sollen Kinder möglichst weg von ihren Eltern?

 

    Hentig: Jedes Kind sollte einmal für ein Jahr oder zwei von seinen Eltern befreit werden und sie von ihm. Nicht die Kleinen unter zehn! Da sind die Spielgruppe, der Sandkasten und der Bolzplatz die richtigeren Orte. Und im Haus warten dann Pflichten und Geborgenheit auf sie. Bei Philippe Ariès kann man lesen, wie verbreitet es am Ausgang des Mittelalters war, die Kinder außer Haus zu schicken. In England ist das Internat bis heute eine maßgebende Form der Lebensschule für junge Menschen geblieben. In der Pubertät tritt eine Verkrampfung der Beziehung zu den Eltern ein. Der Überschwang der Jugendlichen wird im Internat durch die Gemeinschaft und durch die anfallenden Aufgaben reguliert, nicht durch Autorität und die schlechten Nerven der Eltern.

 

    SPIEGEL: Es gibt in Deutschland und gerade auch im erziehungsweisen England schreckliche Internate.

 

    Hentig: Pressen, in denen Kinder reicher Eltern fürs Abitur getrimmt werden.

 

    SPIEGEL: Der ehemalige Leiter des Eliteinternats Salem, Bernhard Bueb, hat vor kurzem eine große Debatte angezettelt. Er behauptet in dem Buch "Lob der Disziplin", die Schüler von heute müssten besser diszipliniert werden. Das Buch dürfte nicht ganz Ihr Fall sein?

 

    Hentig: Allerdings. Bueb macht sich und seinen Lesern Illusionen, wenn er empfiehlt, Autorität zu zeigen. Das ist keine Sache von Entschlossenheit. Wer nur das Gebaren von Autorität annimmt, vernichtet die Autorität, die er tatsächlich haben könnte.

 

    SPIEGEL: Bueb hat als Schulleiter bemerkt, dass den Schülern eine starke Hand fehlt.

 

    Hentig: Bernhard Bueb war der Oberleiter von vier Salemer Einzelschulen. Er wird mit der Erziehung einzelner Schüler wenig zu tun gehabt haben. Der Erfolg des Buchs sagt etwas über unsere Zeit aus. Warum zeigt dieser archaische Ruf nach Strenge, Strafe und Disziplin eine solche Wirkung? Das ist bedrückend, nicht, dass jemand eine solche Pädagogik vertritt.

 

    SPIEGEL: Dass Deutschland so schlecht bei den Pisa-Tests abgeschnitten hat, dürfte ein Hauptgrund sein.

 

    Hentig: Die dadurch ausgelöste Unsicherheit! Die Vermessung unseres Schulsystems, die Unterscheidung zwischen erfolgreichen und nicht erfolgreichen Schulen, die Standards, die man eingesetzt hat, haben einen Druck, ja eine Panik erzeugt, insbesondere bei den Eltern. Wenn sie die falsche Schule gewählt haben, hat ihr Kind keine Zukunft - das ist doch ihre Vorstellung. Also muss die Schule gewählt werden, die das Pisa-Gütesiegel hat.

 

    SPIEGEL: Was bleibt Eltern anderes übrig?

 

    Hentig: Ich verstehe die Eltern. Aber die Leistung einer Schule lässt sich nicht durch internationale Tests in einzelnen Kompetenzen ermitteln. Im hochgelobten Pisa-Land Schweden gibt es heute praktisch nur noch drei Fächer: Schwedisch, Mathematik und Englisch. Der Rest gilt als unwichtig, weil er nicht getestet wird. Ist Musikunterricht nicht genauso wichtig, zum Beispiel gerade um die Schüler auf wirksame Weise in Disziplin zu üben - Selbstdisziplin im Dienst einer Leidenschaft? Ich habe einige der Schulen in Schweden besucht, die uns als so fabelhaft hingestellt worden sind. Da werden Testartisten erzogen.

 

    SPIEGEL: Was spricht gegen Schüler, die ordentliche Tests schreiben?

 

    Hentig: Nichts! Aber sehr viel gegen das "learning to the test", das Lernen um des Tests willen. Wir sind in einer dieser Schulen von einem zwölfjährigen Jungen geführt worden. Dieses Kind lernte einsam. Es lernte anhand von Arbeitsbögen, die den Lerngegenstand in abfragbaren Sätzen präsentierten. Wenn der Junge den einen Bogen fertig hatte, nahm er den nächsten aus dem Programmkasten, füllte ihn aus und hakte das ab. Wir haben uns seine Ringhefte zeigen lassen. Er hatte darin die Geografie der ganzen Welt von Land zu Land säuberlich durchbuchstabiert. Ich fragte ihn: "Hat der Lehrer mit dir darüber gesprochen?" Nein, nie. Ich fragte weiter: "Wo bist du am liebsten?" Er sagte, in der Bibliothek. Also gingen wir in die Bibliothek, wo er mir sein Lieblingsbuch zeigen wollte. Es war ein Prachtband über Schiffe. Nein, sagte er, im Unterricht komme das nicht vor. - Also, da gibt es einen intelligenten Jungen, der eine Leidenschaft für etwas hat, aber die Schule interessiert das nicht, sie geht ihrer Pisa-Exzellenz nach.

 

    SPIEGEL: Disziplin entsteht durch Leidenschaft?

 

    Hentig: Schüler sind überall da diszipliniert, wo sie beteiligt sind. Man muss ihnen doch nur mal beim Skateboarden zugucken, da machen sie hundertmal dieselbe Übung, bis sie diese verdammte Drehung hinkriegen. Die Wahrheit ist: Wir verlieren die jungen Leute, weil wir uns nicht auf ihre Sache einlassen, ihnen Dinge aufdrängen, die in ihrem Leben jetzt keine Rolle spielen: Später werdet ihr's brauchen!, sagen wir und: Es steht so im Lehrplan. Gerade in der Altersstufe der 12- bis l5-Jährigen müssten wir ganz und gar anders verfahren, da funktioniert Paper-and-Pencil-Work nicht. Mein Rat: Versucht nicht immer die Schüler in den Lehrplan, die Leistung, die Bildung zu pressen, macht vielmehr das ihrem Alter Entsprechende und Verständliche richtig, und es wird ein besseres Ergebnis herauskommen als aus allem, was uns Pisa eingegeben hat.

 

    SPIEGEL: Sie haben 1974 ein eigenes Schulprojekt gegründet: die Laborschule und das Oberstufen-Kolleg in Bielefeld. Beide Schulen sind direkt an die Universität angeschlossen. Wenn man aber Ihre Memoiren liest, klingt heraus, dass auch diese Schulen gescheitert sind. Woran?

 

    Hentig: Die beiden Einrichtungen sind nicht gescheitert, aber die Welt hat von ihnen nicht Gebrauch gemacht. Das muss ich mir natürlich zuschreiben. Wie kommt es denn, dass es in Deutschland nur ein einziges richtiges College gibt – das Bielefelder Oberstufen-Kolleg - und nur eine einzige Laborschule, nämlich eine Beobachtungs- und Experimentalstation für die Schulwissenschaft. Woher sollen die Herren Professoren wissen, was das Lernen für die Jugendlichen bedeutet und, vor allem, wie es anders zu organisieren wäre, wenn sie keine Alternativen herstellen und beobachten können. Die Erziehungswissenschaft ist beängstigend produktiv, aber sie unterhält sich mit sich selbst. Dieses harte Urteil verteidige ich.

 

    SPIEGEL: Wenn die Idee so gut ist, warum haben Ihre Schulen dann nicht Schule gemacht?

 

    Hentig: Die Wissenschaft fand uns zu schmuddelig und also nicht theoriewürdig, die Regierung fand uns unverwaltbar.

 

    SPIEGEL: In Ihren Memoiren schildern Sie aber auch, wie der Zeitgeist die Schulen ruiniert hat. Auf einmal wollten Lehrer sich lieber mit Makrobiotik beschäftigen und mit Yin und Yang. Die Linke in den siebziger und achtziger Jahren wurde esoterisch. Wurden Ihre Schulen es auch?

 

    Hentig: Das bestreite ich, aber die Weltverbesserer gab es und die Leute vom Kader, also die ganz Linken. Beides war mit den Schulen nicht gewollt. Sie sollten verständlich in die Welt und in die Wissenschaft einführen, so dass man nach Abschluss der Schule nicht ein Fachidiot war. Das war doch der harte Vorwurf, den die 68er unserem Bildungswesen machten: Es habe die Deutschen gegen die Politik immun gemacht. Das sollte uns nicht noch einmal passieren.

 

    SPIEGEL: Woher kommt eigentlich Ihr pädagogischer Eros? Liegt es an Ihren vielen kleineren Geschwistern, die Sie früh miterzogen haben?

 

    Hentig: So habe ich es im Nachhinein gedeutet. Entscheidender war vielleicht doch das Vorbild meines Vaters. Meine Mutter und mein Vater hatten sich früh getrennt, mein Vater hat viele klassisch mütterliche Aufgaben übernommen. Er machte Dinge, die kein anderer Vater tat.

 

    SPIEGEL: Zum Beispiel?

 

    Hentig: Er brachte mir als Siebenjährigem das Fingernägelschneiden bei. Er zeigte mir, wie ich dabei der speziellen Form meines Fingers nachgehen müsse. Er hat mir gezeigt, wie man einen Koffer so packt, dass alles darin Platz hat und doch nichts verknautscht herauskommt. So erlangt man das Zutrauen zu den Lebensformen der Erwachsenen. Das Schönste war für uns das gemeinsame Frühstück. Er fragte uns nach unseren Plänen für den Tag und malte kunstvoll unsere Initialen mit Honig auf das Brot.

 

    SPIEGEL: Ihr Vater kommt in Ihren Erinnerungen erstaunlich positiv weg, obwohl er Sie doch der Mutter entrissen hat, als Sie gerade erst zwei Monate alt waren.

 

    Hentig: Nicht entrissen, sondern zurückerobert. Er kam von einer Dienstreise heim und fand dort nur das Personal vor. Er ahnte, wohin meine Mutter mit meiner Schwester und mir verschwunden war, fuhr zu diesem Gutshaus, das sich bei seiner Ankunft wie eine Festung gegen ihn verschloss, und stieg über den Balkon in das Zimmer ein, in dem wir uns befanden. Er seilte mich an zusammengeknoteten Laken in einer Ledertasche ab und kletterte mit der Schwester im Arm hinterher.

 

    SPIEGEL: Unglaublich! Ein Säugling in der Aktentasche.

 

    Hentig: Nein, ein Roman, wie ihn das Leben schreibt.

 

    SPIEGEL: Sie blieben die ganze Zeit über bei Ihrem Vater. Am Ende hat das Reichsgericht Ihre Schwester der Mutter, Sie dem Vater zugesprochen. Warum?

 

    Hentig: Das ist kompliziert. Ich habe die Scheidungsakten gelesen – scheußliche Lektüre. Meine Mutter hat später einmal zu mir gesagt: Ich hatte das Gefühl, wenn du geboren bist, hat er, was er will - den Nachfolger. An der Ehefrau war er nicht interessiert.

 

    SPIEGEL: Ihr Vater heiratete noch einmal, und Sie bekamen mehrere Halbgeschwister. Weil Ihr Vater als Diplomat immer wieder versetzt wurde, mussten Sie sich dauernd von Freunden und von Orten verabschieden. Ist Ihnen der ständige Wechsel bekommen?

 

    Hentig: Wir haben zwar furchtbar gelitten, wenn wir ein Land, unsere Freunde, den Hund verlassen mussten, doch das Neue hat uns immer sehr schnell für sich eingenommen. So sind Kinder. Ich habe viele Schulen kennengelernt und bald erkannt: Es kommt nicht so sehr auf die Schule an, sondern auf einzelne Lehrer - und auf mich selbst, auf meine Einstellung.

 

    SPIEGEL: Sie nehmen also gern Abschied?

 

    Hentig: Durchaus nicht! Als ich vor 13 Jahren von Bielefeld nach Berlin zog, habe ich doch einen wunderschönen Ort aufgegeben. Ich wohnte auf dem Land in einem Kotten, wie man dort ein für sich stehendes Bauernhaus nennt. Die Rehe grasten vor der Tür. Das Umziehen nach Berlin war mühsam, aber ich sagte mir: Wenn du noch älter bist, schaffst du es nicht mehr.

 

    SPIEGEL: Mit Berlin schloss sich für Sie ein Kreis. Hier haben Sie als Kind während der Nazi-Zeit gelebt, in der Nähe des Kurfürstendamms, wo Sie jetzt wohnen, befand sich die erste Anwaltskanzlei Ihres Großvaters. Kommt einem das Leben erst in der Retrospektive sinnvoll vor?

 

    Hentig: Gott bewahre! Das wäre ja schlimm, dann hätte ich ja all die Jahre buchstäblich sinnlos gelebt. Nein, das Leben stellt ununterbrochen wichtige Aufgaben, und diese einigermaßen befriedigend zu lösen ist selbst schon Sinn.

 

    SPIEGEL: Sie haben schlimme Zeiten erlebt, ganze Welten sind zusammengebrochen. Sie waren als junger Mann Teil einer Adelsclique, die von Schloss zu Schloss zog, die den Sommer auf Friedrichstein in Ostpreußen bei den Dönhoffs verbrachte. Sie lebten eingebettet in eine jahrhundertealte Tradition, die auf einmal verschwunden war.

 

    Hentig: Ach, die Schlösser. Es gibt bessere Orte auf der Welt als ausgerechnet Schlösser.

 

    SPIEGEL: Sie trauern den alten Zeiten also nicht nach?

 

    Hentig: Nein. Das wäre töricht. Natürlich hängt man an seinen Erinnerungen. Wenn ich damals in Ostpreußen war, weit weg von den Schreiereien der Berliner Politik, in diesem schönen, verwunschenen Land, hatte ich - mitten im Krieg - ein Gefühl von Frieden, das ich nie wieder so gehabt habe.

 

    SPIEGEL: Und in Berlin wütete Hitler. Im Moment gibt es eine Diskussion, die Ihre Generation betrifft, die 8o-Jährigen. Da wird jetzt ein NSDAP-Parteibuch nach dem anderen herausgezogen, und die Betroffenen wollen nichts davon gemerkt haben.

 

    Hentig: Diese sogenannten sehr späten Parteieintritte können eigentlich nur ganz ahnungslose Menschen überraschen. Wenn man überhaupt wahrnahm, dass man eingetreten wurde, konnte man sich dagegen wehren. Aber dann hatte man auch Probleme. Die meisten waren der Meinung, es gehe aufs Ende zu, der Ärger lohne sich nicht mehr. Die Stimmung am Ende des Krieges war entweder pathetisch oder zynisch.

 

    SPIEGEL: Sie schildern in Ihren Memoiren, dass Sie gern Hitlerjunge werden wollten. Von Aufforderungen, in die Partei einzutreten, schreiben Sie nichts.

 

    Hentig: Mir hat das niemand angetragen. Aus dem Hitlerjungen wurde der Arbeitsdienstmann, der aber schon für den Wehrdienst gemustert und tauglich befunden war. Kein Mensch hat mich gefragt, ob ich in die Partei wollte.

 

    SPIEGEL: Haben Sie Günter Grass verstanden, der so spät mit seiner kurzen SS-Vergangenheit herausrückte?

 

    Hentig: Ich finde, dass er das in seinem Erinnerungsbuch "Beim Häuten der Zwiebel" gut erklärt hat, etwas wortreich vielleicht, aber für mich überzeugend. Und noch besser in einem seiner letzten Gedichte. Mich ergreifen sie wie wenige andere - "Mein Makel" etwa. Wollen Sie es hören?

 

    SPIEGEL: Bitte schön.

 

    Hentig: "Spät, sagen sie, zu spät / Um Jahrzehnte verspätet. / Ich nicke: Ja, es dauerte, / bis ich Wörter fand / für das vernutzte Wort Scham.

Neben allem, was mich kenntlich macht, / hängt mir nun Makel an, / deutlich genug / für Leute / mit makellos weisendem Finger. Schmuck für restliche Jahre. / Oder sollte Verkleidung, / der Mantel des Schweigens probiert werden? / Fortan umgäbe mich Stille / inmitten quakender Frösche.

Aber schon sage ich ja, nein und trotzdem. / Nicht zu bemänteln / ist sanktioniertes Unrecht. / Nie zu spät wird, was war und ist, / beim Namen genannt.

Makel verpflichtet."

 

    SPIEGEL: Anders als Grass enthüllen Sie in Ihrem Erinnerungsbuch keine dunkle Seite. Haben Sie das Gefühl, im Leben alles richtig gemacht zu haben?

 

    Hentig: Ich mache aus meinen Schwächen und Versäumnissen keinen Hehl. Aber selbst durch das, was falsch war, habe ich dazugelernt, und so war es letztlich nicht unnütz. Der Titel sagt es: "Mein Leben - bedacht und bejaht".

 

    SPIEGEL: Herr von Hentig, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

"Die jungen Leute verloren" - SPIEGEL-Gespräch mit Hartmut von Hentig, SPIEGEL 34/2007, 20. August 2007