"Erziehung" – das Ende eines Großprojekts?

 

Warum gibt es heute so viele „schwierige“ Kinder? Was kann man tun? Liegt es an den Kindern? Liegt es an der falschen Erziehung? Oder an den Zeitverhältnissen? Eltern, Lehrer und Erzieher schwanken zwischen Selbstvorwürfen, wechselseitigen Schuldzuweisungen und Anklagen gegen gesellschaftliche Missstände. Die einen beklagen den Zerfall sittlicher Werte und wünschen sich frühere Zeiten zurück; andere sagen, man müsse endlich die alten „humanistischen“ Wertmaßstäbe abschütteln, die im 20. Jahrhundert ihre Untauglichkeit hinlänglich bewiesen hätten. Die „Kulturrevolutionäre“ der sechziger, siebziger Jahre seien im Grunde tief konservativ gewesen: Neuromantiker im Avantgardistengewand, vergeblich bemüht, die Mythen „Freiheit“ und „Würde“ gegen den unerbittlichen Vormarsch des homo oeconomicus zu verteidigen.

 

    Eine rückwärts gerichtete, neokonservative Kulturkritik mit unüberhörbaren reaktionären Nebengeräuschen steht der postmodernen Alles-okay-(Fahr-)Lässigkeit gegenüber; jene will Zucht, Ordnung, Patriotismus, Pflichtbewusstsein und Ehre, kurzum: die sprichwörtlichen bürgerlichen Sekundärtugenden wieder in den Rang pädagogischer Leitmotive erheben; diese lässt es von sich abprallen, wenn ihr vorgehalten wird, sie erzeuge einen „neuen konformistischen Einheitstyp“ (Horst-Eberhard Richter) des geld-, mode-, medien- und sexappeal-besessenen Konsumkids. Na und? Wozu gegen den Zeitgeist rebellieren, wenn man sich vergnüglich mit ihm arrangieren kann? Was nützt denn, so wird gefragt, das Gefasel von Selbstverwirklichung, Realitätssinn, Sozialfähigkeit und so weiter im Zeitalter der Persönlichkeitszersplitterung? Das ehrwürdige unteilbare „Ich“ habe ausgedient, der postmoderne Mensch sei ein „Ensemble“ von Identitäten, die Nichtunterscheidbarkeit zwischen gegebener und virtueller Realität längst ein Faktum, die telekommunikative Entsinnlichung zwischenmenschlicher Beziehungen, das heißt das Belangloswerden der Ich-Du-Erfahrung, nicht mehr rückgängig zu machen.

 

    Es scheint sich, was die Vormacht in den meinungsbildenden Medien angeht, eine Gabelung des Hauptstroms in diese beiden großen Richtungen anzudeuten: auf der einen Seite die unkritische, technologieverliebte und hedonistische „große Koalition der Einverstandenen“ (Marianne Gronemeyer) einschließlich ihres „esoterischen“ Flügels, wo man sich darüber mokiert, dass in der Erziehungslandschaft immer noch die alten Hüte der libertären Moderne „Kreativität“, „Autonomie“, „Humanismus“ und so weiter) getragen und den Kindern moralisierend übergestülpt würden (der Kampfbegriff „political correctness“ wird nicht zuletzt gegen eine sozial engagierte Eltern- und Lehrerschaft gerichtet, die unbeirrt an gewissen menschlichen Idealen festhält); auf der anderen Seite das neu-konservative Rollback, wo man ebenfalls das Feindbild von der libertären Moderne pflegt, allerdings nicht wegen deren moralischem Übereifer, sondern ganz im Gegenteil wegen der durch sie angeblich hervorgerufenen sittlichen Verwahrlosung. Schuld ist jedenfalls der Mythos von Freiheit und Selbstbestimmung, darin sind sich die Protagonisten des „Okay-Spiels“ (Richter) mit den pädagogischen Antiquitätenhändlern einig.

 

    Eine große, schweigende, gleichwohl betroffene Menge beobachtet diese Debatten mehr oder weniger verständnislos und versucht, den Alltag mit den Kindern irgendwie zu meistern; man wendet sich ratsuchend an Fachleute, durchstreift die unübersichtliche, widersprüchliche Erziehungshilfeliteratur, die bekanntlich Hochkonjunktur hat, und wird das beklemmende Gefühl nicht los, dass der ganze veröffentlichte Meinungsstreit eigentlich nur um die Alternative kreist: rückwärts oder vorwärts in die Katastrophe? „Zeitgeistkonforme“ Erziehung, die den ganzen Plastik-, Fernseh-, Comic-, Trivialpop- und Computerstumpfsinn mit einem lässigen „So-ist-nun-mal-die-heutige-Welt“ einfach hinnimmt oder gar freudig begrüßt, erspart den Kindern weiß Gott kein Leid, sondern treibt sie zielstrebig in die Verstörung. Aber auch das realitätsferne, auf in Wahrheit nie dagewesene Idyllen rekurrierende Gegenkonzept ist - entgegen einer lange und intensiv gehegten Hoffnung - kein zuverlässiger Schutz vor Unruhe, Angst, Bekümmerung, seelischer Erschöpfung und Orientierungslosigkeit, vor jenen kindlichen Seelennöten also, deren geradezu epidemische Ausbreitung unbestritten ist. Die Idylliker, von denen ich jetzt spreche, haben - wohlgemerkt - nichts mit den eingangs erwähnten autoritären Umtrieben im Sinn, sondern man erkennt sie an einer durchaus sympathischen, aber wenig fruchtbaren Neigung, durch Verniedlichung der Welt, manchmal bis hart an die Grenze des - wenn auch „barmherzigen“ - Betrugs, die Erziehungsfrage lösen zu wollen.

 

    Anti-pädagogische Experimente („die beste Erziehung ist Nichterziehung“ ) haben sich längst als ebenso untauglich erwiesen wie Rückgriffe auf das restriktive Arsenal der „schwarzen“ Pädagogik. Die orthodoxe Linke ist gescheitert mit ihrer volkspädagogischen Großoffensive. Der ideologische Zugriff auf die arbeitende Bevölkerung hat das Erziehungsproblem nicht, wie man hoffte, nebenbei miterledigen können. Die antiautoritäre Linke rückte zwar das Kind (und nicht den gesellschaftlichen Menschenmaterialbedarf) in den Mittelpunkt pädagogischen Denkens, was nicht genug gewürdigt werden kann, kam jedoch in praxi nicht darüber hinaus, konventionelle Formen zu konterkarieren. Ihr libertäres (auf Selbstbestimmung gerichtetes) Konzept hatte keine philosophisch-menschenkundliche, geschweige denn spirituelle Basis, und so kam es, dass man freiheitliche Erziehung damit verwechselte, von den Kindern schon im Nachahmungsalter Partnerschaftlichkeit und Selbstverantwortung zu erwarten: eine neue Variante pädagogischer Willkür. Alexander S. Neills Ideen einer freiheitlichen Erziehung wurden, wie er selbst beklagte, als Aufforderung zur programmatischen Vernachlässigung missverstanden. Aber auch dem authentischen „Summerhill“-Projekt fehlte ein konsequent über das materialistische Menschenbild hinausweisender Begründungszusammenhang, ohne den die Erziehungsfrage unvermeidlich ins Leere läuft.

 

    Zusammenfassend muss festgestellt werden: Am Ende des 20. Jahrhunderts, das oft als „Jahrhundert des Kindes“ apostrophiert wurde (rückverweisend auf Ellen Keys 1902 erschienenes gleichnamiges Buch, das damals ähnliches Aufsehen erregte wie sechzig Jahre später Neills Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung), stehen wir pädagogisch wieder ganz am Anfang. „Kassandra sitzt mitten unter den Unzufriedenen, ob sie nun Eltern, Lehrer oder Schüler heißen“, schreibt J. Fritz-Vannahme. Er will sagen: Katastrophenstimmung macht sich breit. Übertreibung? Augenscheinlich nicht. Gronemeyer proklamiert „das Scheitern der Schule“, Neil Postman sieht „das Ende der Erziehung“ gekommen, Winfried Dobertin erklärt den „Bildungsnotstand“. „Behaltet bitte die Nerven!“, ruft Hartmut von Hentig erschrocken in den anschwellenden Chor der Unheilverkünder. „Erziehung war immer ein fundamentaler, persönlicher, sehr schwer kalkulierbarer Auftrag an die Erwachsenen. Folglich leiden die Erwachsenen auch immer an ihren pädagogischen Misserfolgen. Angesichts der Größe der Aufgabe ist das ganz natürlich.“ Wohl wahr. Erziehungsverantwortung verträgt sich nicht mit dem Konzept „Lebensqualität light“. Kinder sind keine Luxusartikel, keine Statussymbole, keine Vorzeigeobjekte, kein Privatvergnügen. Wer ihnen gerecht werden will, braucht ein gewisses Maß an Leidens- und Verzichtsfähigkeit, muss bereit sein, sich mit den eigenen Schwächen auseinanderzusetzen, Lebensgewohnheiten und Einstellungen zu überprüfen, von Selbsterziehung nicht nur zu reden, sondern sie zu leisten. Wenn Panik ausbricht, deutet dies nicht selten darauf hin, dass pädagogischer Ehrgeiz im Spiel ist. Nichts könnte jedoch widersinniger sein, als Erziehung wie ein unternehmerisches Projekt zu betreiben, nämlich sich von bestimmten Erfolgsabsichten leiten zu lassen, unverhohlene oder verhohlene Kosten-Nutzen-Erwägungen in Anschlag zu bringen, auf eine „lohnende“ Schlussbilanz zuzuarbeiten. Leider ist ausgerechnet dieser Widersinn heute eine Art stillschweigende Vereinbarung zwischen der Gesellschaft, den pädagogischen Institutionen und den Haupterziehungsbeauftragten, den Eltern. Es sei ein „berechtigtes Kalkül“, lese ich im Magazin ZEIT–Punkte (2/1996), Reformen des Schulwesens unter dem Gesichtspunkt „Vorteile im verschärften internationalen Wettbewerb“ einzuleiten. Erziehung als Projekt des bürokratisch-industriellen Komplexes?

 

    Diese (milde ausgedrückt) pädagogisch verfehlte bildungspolitische Marschrichtung findet ihre Entsprechung im Kleinen überall dort, wo sich Erziehung an den destruktiven, kindheitsfremden „Idealen“ der Konkurrenz- und Konsumgesellschaft (Macht, Besitz und Genuss auf Kosten anderer; sexuelle Attraktivität; sorgloses, beschwerdefreies Leben und, insoweit es alledem dienlich ist, intellektuelle Aufrüstung) orientiert. Wollte jemand bestreiten, dass diese Präferenzen postmoderner Lebensplanung „kindheitsfremd“ sind, müsste ihm entgegengehalten werden, er habe es bisher versäumt, sich einem Kind auch nur ein einziges Mal mit wachem, anteilnehmendem Interesse zuzuwenden. Damit die heranwachsenden Generationen, so wird gesagt, dem „Standort Deutschland“ im internationalen Wettbewerb Macht, Ansehen und Wohlstand sichern können, muss der heranwachsende Einzelne für den immer härteren Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze und Privilegien gerüstet, kurz: mit allem ausgestattet werden, was erforderlich ist, um sich im erbarmungslosen Wettstreit der Egoismen zu behaupten. Erziehung als Herzensbildung (gewiss kein unzeitgemäßes Anliegen!) bleibt dabei auf der Strecke. Wer spricht noch davon, dass tief in jeder Kinderseele ein humanitärer Impuls als nach Bewusstwerdung und „schönen Taten“ drängende, latente Idealkraft schlummert: ein gewissermaßen in die Menschengestalt eingeschriebenes Elementarbedürfnis, die eigene Entwicklung an diejenigen Kräfte der Kulturentwicklung anzuschließen, die auf soziale Gestaltungen im Zeichen praktizierter Liebe zustreben?

 

    Dies ist, wie zu zeigen sein wird, kein frommer Wunschtraum, sondern eine anthropologische Konstante. Im Grunde beruhen alle Versionen pädagogischen Ehrgeizes auf der Verkennung dieser Tatsache. Wo das Kind zum Projekt der Erwachsenen degradiert und „erzieherisch“ zugetrieben wird auf ein „gelungenes“ Ergebnis nach Maßgabe eines vorgegebenen Erfolgsmodells, ist es in seiner Eigenschaft als verkörpertes Liebeswesen beständiger Misshandlung ausgesetzt, auch wenn die „streng wissenschaftlich“ sich dünkende Entwicklungspsychologie davon nichts hören will. Gesellschaftlicher und privater Ehrgeiz greifen ineinander und erzeugen eine Atmosphäre, in der Kinder, die das „Erfolgsmodell“ konterkarieren, als lebendige Missgeschicke betrachtet werden.

 

    Wir stehen nun vor der bemerkenswerten, gewiss nicht zufälligen Tatsache, dass sich diese lebendigen Missgeschicke unaufhaltsam vermehren und allmählich dem erziehungswissenschaftlichen Diskurs eine ganz unvorhergesehene, für den internationalen Wettbewerb wenig vorteilhafte Richtung geben. Die Kindheit selbst revoltiert gegen den Prototyp Kind aus materialistisch-marktwirtschaftlicher Serienfertigung. Diesbezüglich stehen wir nicht nur wieder am Anfang, sondern vor einer (im Unterschied zur reformpädagogischen Euphorie der letzten Jahrhundertwende) neuartigen Situation. Ist das „Projekt“ zum Scheitern verurteilt?

 

Wenn ich sage: «Kämm dir die Haare», fängt er schon an, mich mit Vorwürfen zu überschütten.

    B.: Was für Vorwürfe sind das?

    E.: Na ja, er schreit: «Ich will aber nicht Haare kämmen! Du bist gemein! Immer störst du mich! Ich will spielen! Böser Papi!»

    B.: Aber das darf man doch bei einem Fünfjährigen nicht wörtlich nehmen.

    E.: Ich weiß nicht ...

    B.: Ich frage mich, ob er Ihnen wirklich Böswilligkeit und absichtliche Quälerei unterstellt. Das kann ich mir nicht vorstellen.

    E.: Aber warum sträubt er sich dann immer? Warum diese Vorwürfe?

    B.: Das weiß ich noch nicht. Aber wenn Sie sich gekränkt fühlen, weil Sie glauben, Ihr Junge unterstelle Ihnen böse Absichten - nur weil er wüste Lausbubenschmähungen ausstößt, sobald ihm etwas nicht passt -, dann bringen Sie eine Verdächtigung ins Spiel, die sich aus dem widerspenstigen Verhalten gar nicht ohne Weiteres ableiten lässt. Eine pure Vermutung, und zudem eine ziemlich misstrauische, finden Sie nicht? Könnte es sein, dass das Widerspenstigkeitsproblem bei Robert liegt, das Misstrauensproblem hingegen bei Ihnen? Nehmen wir an, ein Kind mit großer Hautempfindlichkeit würde jedes Mal nach dem Baden beim Abtrocknen anfangen zu schreien: «Aua! Du tust mir weh! Böse Mami! Böser Papi!» Da wäre es doch falsch zu folgern: «Dieses Kind glaubt, man wolle ihm böswillig Schmerzen zufügen.» Das Abtrocknen tut einfach weh. Und deshalb schreit das Kind. Was weh tut, ist <böse>.

    E.: Sie glauben, wir misstrauen unserem Kind?

    B.: Nicht ganz. Ich frage mich vielmehr, ob Sie das ohnehin schwierige Verhältnis zu Robert zusätzlich damit belasten, dass Sie dazu neigen, manches als Angriff auf Ihre Person zu empfinden, was sich gar nicht gegen Sie richtet. Das ist eine häufig anzutreffende Quelle von Missverständnissen ... in Partnerschaften, Liebesbeziehungen, Arbeitszusammenhängen, Lehrer-Schüler-Verhältnissen und eben auch zwischen Eltern und Kindern. Ich wage die Behauptung: Sie haben sich unglaubliche Mühe mit Robert gegeben und werten seine Widerspenstigkeit nun als Undankbarkeit. Sie fühlen sich von ihm ungerecht beurteilt und nicht genügend gewürdigt. Bitte fassen Sie das nicht als Kritik auf. Dass Sie gute Eltern sind, steht ja außer Frage. Aber wir dürfen als Erwachsene nicht den Anspruch haben, bei den Kindern Anerkennung für unsere Mühe zu finden. Der Anerkennung ist schon damit mehr als Genüge getan, dass uns ein Kind überhaupt geschenkt wird. Wir schulden dem Kind und dem Himmel dafür Dank. Sie müssen sich des Privilegs bewusst sein, dass Sie von Robert als Eltern gewählt worden sind. Es ist wichtig, sich in der pädagogischen Beziehung vor Anwandlungen des Gekränkt- und Beleidigtseins zu hüten, die immer damit zusammenhängen, dass man die eigene Rolle falsch einschätzt. Kinder sind nicht verpflichtet, unsere Ansichten darüber, was für sie gut wäre, in allen Punkten zu teilen. Und wenn man bedenkt, dass sie sich auf ein ganzes, langes Leben vorbereiten müssen, wird man einsehen, dass sie nur in begrenztem Umfang auf unsere Wünsche und Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen

können.

 

Es folgt ein Wortwechsel über das vom Berater zuletzt Gesagte. Die Eltern können nicht gleich nachvollziehen, inwiefern sie <privilegiert> sein sollen, aber der Gedanke interessiert sie.

 

    E.: Vielleicht sind wir zu empfindlich, das kann sein. Aber Roberts Bockigkeit ist ganz offensichtlich gegen uns gerichtet. Was soll denn sonst dahinterstecken? Er hat einfach kein Gespür dafür, dass wir es gut mit ihm meinen.

    B.: Das glauben Sie. Mit mir hat er sehr liebevoll über Sie gesprochen. Ich habe den Eindruck, er vertraut Ihnen blind. Seinen Vater bewundert er wie einen großen Helden. Kein anderer Mann reicht da heran. Und Sie, Frau L., sind seine Zuflucht. Die Trösterin und Heilerin. Von Ihnen kommt alles Wohlige, Angenehme. Sie wissen immer, was zu tun ist, wenn er sich schwach und krank fühlt.

    E.: Aber warum ...

    B.: Es ist sehr wohl möglich, dass ein Kind die Liebe seiner Eltern spürt, ja wie ein Naturereignis voraussetzt, und trotzdem unter dem Eindruck steht, sich immerzu wehren zu müssen. Außerdem: Er bockt ja auch im Kindergarten. Und bei der Oma. Man muss alle Vermutungen, Enttäuschungen und Gekränktheiten einmal beiseite lassen und sich aufs genaue Beobachten verlegen. Wann bockt er? Wie bockt er? Wann tut er es nicht? Wie verhält er sich dann? Ich höre immer nur: Robert ist widerspenstig, schimpft, schreit. Aber das Kind besteht doch nicht nur aus Geschimpfe und Geschrei! Ich habe gestern erlebt, wie wunderbar fantasievoll er eine Landschaft aufbauen kann und was für entzückende, kunterbunte Geschichten ihm dazu einfallen. Außerdem imponiert mir, wie grundpositiv er über alle Menschen spricht. Da zeigt sich eine Menge Urvertrauen und Wohlwollen. Robert scheint die <Szenen> gar nicht so tragisch zu finden, die sich im Kindergarten und zu Hause abspielen. Er hält in seiner Naivität die Erwachsenen für viel zu groß und mächtig, als dass er sie ernstlich in Schwierigkeiten bringen könnte. Er ist eigentlich ein sonniger, unbekümmerter kleiner Kerl, dem wir nicht die Lebensfreude nehmen dürfen, indem wir ihn auf <Nervensäge> reduzieren.

    E.: Das sehen wir eigentlich auch so … aber dann immer diese Reibereien, die Klagen aus dem Kindergarten, die Kommentare der Verwandten und Bekannten …

    B.: Stellen Sie sich taub für alle <Kommentare>, durch die keine echte Zuneigung und Anerkennung für Robert durchklingt! Wenn Letzteres der Fall ist, kann man auch kritische Ratschläge annehmen. Aber nur dann. Vor allem hängt unendlich viel davon ab, dass Sie sich die – bedingungslose! – Wertschätzung für Ihren Jungen bewahren. Er hat ein Anrecht darauf, dass man jede schöne Seite seines Wesens mindestens dreimal so wichtig nimmt wie jede „schwierige“ – wobei noch zu klären wäre, was unter „schwierig“ zu verstehen ist. (S. 119 f.)

 

    Mich hat in meinem Leben weniges so sehr bekümmert wie bestimmte Situationen, in denen ich die gut gemeinten, wirklich vernünftigen Ratschläge von Menschen zurückweisen musste, die aufrichtig um mich besorgt waren. Eine innere Stimme sagte wider alle Logik gebieterisch "nein". Kennen Sie das nicht? Man hat irgendwie das Gefühl, sich schützen zu müssen gegen das Beeinflusstwerden als solches. Manchmal zeigt sich Jahre später, wofür das gut war. Man hat, da man die guten Ratschläge nicht befolgte, einige Blessuren davongetragen, aber das war der Preis, der zu entrichten war für eine von niemandem vorhergesehene Errungenschaft oder Begegnung, die ohne den "dornigen Weg" nicht möglich gewesen wäre.

 

    Fürs Erste wissen wir nur und sollten es dabei belassen: Robert hat einfach eine tiefe Abneigung gegen das Beeinflusstwerden, sich Einfügenmüssen.

 

Henning Köhler: Schwierige Kinder gibt es nicht. Plädoyer für eine Umwandlung des pädagogischen Denkens. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, 2007